Nicht wie Sisyphus
Gottesdienst am 27.10.2002

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
SisyphusSie kennen wahrscheinlich den griechischen Mythos von Sisyphus. Er war in Korinth König und galt als verschlagen und hinterhältig. Als Strafe dafür musste er nach seinem Tod in der Unterwelt einen Felsbrocken den Berg hinauf schieben. Immer wenn er den Brocken fast oben hatte, rollte der ihm wieder entgegen.

Sisyphus ist ein Abbild von unserem Umgang mit den Schwierigkeiten des Lebens. Wir schaffen unaufhörlich, aber der Berg wird nicht kleiner. Wir mühen uns mit schweren Lasten ab. Aber sie kommen uns immer wieder entgegen, sobald wir meinen, sie nun endlich los zu sein. Wir kämpfen mit unseren Fehlern und Schwächen, wollen friedfertig leben und schaffen es nicht, haben gute Vorsätze und werden von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt. 

Heute möchte ich mit Ihnen den Blickwinkel ändern. Ich möchte nicht von unten den Berg vor mir betrachten und die Felsbrocken, die da noch bewegt werden müssen. Ich möchte von oben schauen, mich anstecken lassen von der Bewegung, mit der Jesus Christus mich mitnehmen will - heraus aus den Niederungen hin zu einem Leben mit ihm, der die Felsbrocken für mich schon längst weggeräumt hat.

Paulus schrieb an die Gemeinde in Philippi einen Mutmach- Brief. Er wollte ihnen diese Perspektive von oben zusprechen, ihnen helfen, sich von den unbewältigten Lasten nicht erschlagen zu lassen. So zitierte er ein Christus- Lied - einen Lobgesang auf Gottes Liebe zu uns.

Philipper 2,5-11

Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott  erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist,
dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 
und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. 

Jesus, der Sohn Gottes, hat sich auf unsere Stufe begeben, dafür preist ihn das Lied. Stellvertretend für uns packte er unsere Steine an. Nicht dass er sie alle mit übermenschlicher Kraft den Berg hinauf geschoben hätte. Nein, er wurde von diesen Steinen des Unvermögens, der Selbstüberschätzung und der Schuld erschlagen. Doch Gott hat Jesus auferweckt. Der Tote lebt, die Steine sind tot. Gott hat den zwanghaften Kreislauf von Sisyphus durchbrochen. Wer seine Steine nun Jesus überlässt, der wird gerettet und bekennt mit der Gemeinde Jesu: "Jesus Christus ist der Herr!" Und wer keine Steine mehr wälzen und stemmen muss, der ist frei, frei, Gott zu hören, sich ihm anzuvertrauen, mit ihm den Weg voller Freude in die Zukunft zu gehen. 

Als wir darüber in einer Gruppenstunde nachdachten, kam die Frage auf, woher wir eigentlich wissen können, dass das wirklich stimmt. Kann die Befreiung durch Jesus nicht auch eingebildet sein, um die Härten des Lebens besser ertragen zu können? Glauben wir das nur, weil wir es schon so oft gehört haben?

Am 31.10. feiern wir den Reformationstag. Es ist ein Gedenktag, der uns daran erinnert, dass Martin Luther genau diese Erfahrung gemacht hatte. Er kannte die Bibel gut. Er wusste um Gott, dem er verantwortlich war. Aber er hatte Angst vor Gott. Er wähnte ihn auf dem Gipfel des Berges stehen und darauf warten, dass Martin seine Steine mit aller Kraft bis zum Gipfel hoch wälzte. Da Martin aber daran immer wieder scheiterte, meinte er sich von Gott verurteilt. Martin Luthers Schlüsselerfahrung war, dass Gott nicht oben auf ihn wartete, sondern dass Gott in Jesus Christus schon längst die Steine für tot erklärt hatte. Martin brauchte nicht Steine zu wälzen, sondern durfte mit Jesus frei sein. Diese Erfahrung machte aus ihm einen neuen Menschen. Er wollte allen von dieser bahnbrechenden Erkenntnis erzählen. Er wollte ihnen Gottes Liebe vermitteln, die jedem und jeder gilt und keine Vorleistungen erfordert.

Ganz ähnliche Erfahrungen machten die Wesley- Brüder John und Charles 200 Jahre später in England. Sie bekamen eine neue Perspektive. Nicht mehr die Steine lagen vor ihnen und drohten sie zu erschlagen, sondern Jesus gab ihnen die Hand für einen Weg in die Freiheit. Davon wollten sie anderen erzählen und sie zum Gotteslob einladen. Die methodistische Bewegung entstand und mit ihr viele Kirchenlieder, die davon handelten, dass Christus gerettet, erlöst und befreit hat.
Die neue Perspektive von oben hat Auswirkungen, von denen der Apostel Paulus der Gemeinde in Philippi weiter schreibt:

Philipper 2,12-13

Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. 

Paulus will der Gemeinde ins Herz sprechen. Er redet sie an mit "Meine Lieben!", wir spüren ihm sein Engagement ab. Hier scheint es um Wesentliches zu gehen, um die Umsetzung der Theorie in die Praxis. Die Philipper sollen auf Paulus hören. Nicht, weil Paulus so wichtig ist, sondern weil alles davon abhängt, dass sie nicht wieder rückfällig werden. Zwei Sätze gibt Paulus den Gemeindeleuten mit, eine Ermahnung und eine Begründung. Schauen wir zuerst auf die Begründung.

Gott selbst bewirkt in uns das Wollen und Vollbringen

Von den Steinen und Lasten befreit zu sein, ist das eine. Das andere ist, wie es nun mit den freien Menschen weitergeht. Gott selbst wirkt, er lädt mit Kraftstoff auf, der uns zum Laufen bringt. Als wir noch wie Sisyphus am Berg standen, da kannten wir diesen Kraftstoff nicht. Da lebten wir von unserer Reserve und waren bald mit der Kraft am Ende. Wir brachen zusammen und gaben resigniert auf. Ein Schüler, der von der Lehrerin immer nur hört, dass er das Klassenziel nie schaffen wird, der wird sich bald nicht mehr bemühen, mit der Klasse Schritt zu halten. Der wird auch keine Hausaufgaben mehr machen, denn die scheinen ja auch nichts daran zu ändern. Ein Schüler, der aber Motivation von seiner Lehrerin erlebt, der spürt, dass sie ihm eine Menge zutraut, ihn schätzt und sich über seine Beiträge freut, der wird Lust bekommen zum Arbeiten und Mut, auch das Schwierige in Angriff zu nehmen und sich dahinter zu klemmen.

Gott gibt uns Kraft, die uns loslegen lässt. Er gibt Hoffnung, dass ein Leben, das ihm gefällt, gelingen kann. Er lässt uns seinen Willen für unser Leben erkennen und gibt gleich noch die Erfolgsgarantie dazu. Kaum zu glauben. Da erlebt eine Jugendliche, dass Gott sie in besonderer Weise in ihrem Umgang mit Kindern befähigt. Sie bekommt schnell einen Draht zu den Kindern, ist gerne mit ihnen zusammen, hat keine Disziplinprobleme. Sie macht sich auf die Suche nach einer Arbeitsstelle, die diese Befähigung einschließt. Sie beginnt Lehramt zu studieren. Das fällt ihr nicht leicht. Und oft würde sie am liebsten alles hinwerfen und noch mal was ganz anderes anfangen. Aber sie denkt an Gott und seinen Willen für ihr Leben. Sie will ihn nicht ignorieren. Und sie hält daran fest, dass er nicht nur das Wollen schenkt, sondern auch das Vollbringen. Viel später schaut sie auf diese Zeit zurück und entdeckt sie für sich als eine ganz besondere Zeit der Gottesnähe. Gottes Willen hat sie motiviert und voran gebracht. Wo sie längst aufgegeben hätte, da hat er Vollbringen geschenkt und sie in ihrem Dienst mit den Kindern gesegnet.

Nur die Geschichte einer Grundschullehrerin? Nein, solche Geschichten erleben auch andere, in anderen Situationen, in Beziehungsproblemen, Geldnöten oder Krankheitszeiten. Gottes Wille motiviert und er sagt zu, dass wir ihm Freude machen, wenn wir danach leben und ihn wirken lassen.

Doch das bedeutet nicht, sich nun faul zurückzulehnen und einfach mal abzuwarten, wie Gottes Lösungen denn jetzt aussehen.

Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern!

Der Kraftstoff, mit dem Gott uns ausstattet, ist kein Schlaftrunk, der uns schlafen lässt bis in Ewigkeit, so wie es das Sprichwort andeutet: "Wer schläft, sündigt nicht." Der Kraftstoff lässt uns tätig werden hier und heute. Er ruft uns auf zur Verantwortung für unser Leben. Gott ist Gegenüber und lässt sich nicht einfach in unser Leben und unsere Philosophie einbauen -  wenn wir ihn brauchen, ist er da, sonst kommt er in den Schrank.

Er hat Weisungsbefugnis, gibt uns die Richtung vor. So ist auch verständlich, dass Paulus die Philipper so eindringlich anspricht. Es ist nicht egal, womit wir unser Leben zubringen. Die Rettung ist geschehen, die brauchten wir nicht zu schaffen wie Sisyphus. Aber nun heißt es, der Rettung gemäß zu leben.

Stellen wir uns einen Sonntagsspaziergang in den Neuenhainer Feldern vor. Wir treffen einen alten Bekannten. Schon Jahre haben wir ihn nicht mehr gesehen. Er hatte zum Glauben an Jesus Christus gefunden und lebte in der Gemeinde, bis er weggezogen ist. Wir kommen ins Gespräch. Und, wie ist es weitergegangen? Er erzählt, wie sein Glaube nach und nach an Bedeutung verlor. Er fand am neuen Wohnort keine Gemeinde, in der er sich wohl fühlte, die Kontakte zu seinem alten Umfeld brachen ab, eins nach dem andern gab er auf, das Bibellesen, das Beten, die tägliche Besinnung auf Gott. Mittlerweile spürt er eine Sehnsucht in sich, am Alten wieder anzuknüpfen, aber es scheint zu weit weg zu sein. Wir treffen wenig später auf unserem Spaziergang eine andere langjährige Bekannte. Auch sie ist aus beruflichen Gründen weggezogen. Aber sie berichtet nun mit großer Begeisterung von ihrer neuen Heimat, einer Gemeinde, in der sie Aufgaben hat, die ihr liegen, von neuen Freunde, die sie im Glauben begleiten. Nach dem Spaziergang sitzen wir zusammen und fragen uns: hat die Bekannte nun "geschafft"? Hat sie im Schweiße ihres Angesichts und mit hochgekrempelten Ärmeln Gott gedient? So wirkte sie nicht. Ihr Engagement schien Ausdruck ihrer Überzeugung zu sein. Sie ließ sich in die Mitarbeit rufen, erlebte Gottes Kraft und wuchs in ihrem Vertrauen zu Gott.

Und ich? Habe ich Ehrfurcht vor Gott und seiner Richtungsangabe oder klemme ich ihn mir einfach unter den Arm als Talisman in meinen Alltagsgeschäften? Lasse ich seinen Kraftstoff in meinem Leben zur Wirkung kommen oder drehe ich den Tank zu und bediene mich anderer Kraftquellen, die mich letztlich aussaugen? Setze ich das Wollen um in Tun? Oder finde ich mich damit ab, mir gute Gedanken zu meinem Leben zu machen, ansonsten lasse ich es dahinplätschern ohne Konsequenz? Habe ich Hoffnung, dass meine kleinen Schritte, die ich als Gottes Willen erkenne, zu einem guten Ziel kommen?

Diese Fragen sollten wir nicht nur den Philippern überlassen. Es sind Anfragen an uns ganz persönlich. Befreit zu sein von den Steinen des Sisysphus setzt unser Leben erst richtig in Bewegung, hin zu Gott, hin zu den Mitmenschen. Dabei geht es nicht um unsere Rettung, die ist ja schon geschehen, aber um ein Leben, das Rettung zum Ausdruck bringt. Undenkbar, nach der Rettung weiterzuleben, als habe es diesen Einschnitt niemals gegeben. Leichtfertig wollen wir das Gewonnene nicht verschleudern. Die Zusage des Paulus macht uns Mut, Gottes Kraft wirken zu lassen:

Philipper 1,6

Ich bin darin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu. 
Cornelia Trick


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