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Liebe Gemeinde,
Aus dem dunklen Dom traten wir wieder hinaus in die helle Mittagssonne. Angerührt von der Liebe Gottes fiel mein Blick auf einen Bettler, der auf einem Sims vor der Kirche mit Pappbecher in der Hand saß. Geschichten der Bibel gingen mir gleich durch den Kopf. Wie gerne hätte ich ihm gesagt: „Alle Ihre Not ist behoben, Jesus sorgt für Sie“, „Nehmen Sie Ihre Matte und gehen Sie in ein neues Leben mit Gott“. Stattdessen gab ich ihm eben doch nur etwas Geld und grüßte ihn kurz. Eine dieser Bettler-Geschichten ist im Johannesevangelium zu finden. Der Evangelist Johannes beschränkt sich bei seiner Darstellung des Lebens Jesu auf Eckpunkte seines Wirkens, die wichtig für die Lesenden sein und ihnen in Lebensentscheidungen helfen können. Jesus war nach Jerusalem zum Laubhüttenfest gereist. Ihn erwarteten dort Auseinandersetzungen und Streitgespräche mit den Führungskräften der religiösen Elite. Als es im Tempel darum ging, ob Jesus sich wichtiger und näher an Gott fühlte als Abraham und Mose, und Jesus das bejahte, wurden sie richtig böse und wollten ihn steinigen. Jesus entzog sich und verließ den Tempel. Aus dem Augenwinkel nahm er einen Bettler vor der Tempeltür wahr, der ein dreifach hoffnungsloser Fall war. Er war blind, blind geboren und arm. Nach damaligem Verständnis hatte Gott ihn und seine Familie ganz und gar fallen lassen. Diesen Mann sah Jesus und erkannte in ihm wohl Gottes Möglichkeiten, ein Wunder zu vollbringen und damit Jesu Vollmacht aufzuzeigen. Johannes 9,1-34 Da sagten seine Nachbarn und die Leute, die ihn vorher als Bettler gekannt hatten: »Ist das nicht der Mann, der immer an der Straße saß und bettelte?« Einige meinten: »Das ist er.« Andere sagten: »Nein, er ist es nicht; er sieht ihm nur ähnlich.« Der Mann selbst bestätigte: »Ich bin es!« »Wieso kannst du auf einmal sehen?«, fragten sie ihn. Er antwortete: »Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Brei, strich ihn auf meine Augen und sagte: 'Geh zum Teich Schiloach und wasche dein Gesicht.' Ich ging hin, und als ich mich gewaschen hatte, konnte ich sehen.« »Wo ist er?«, fragten sie ihn. Er antwortete: »Ich weiß es nicht.« Sie brachten den Mann, der blind gewesen war, vor die Pharisäer. Der Tag, an dem Jesus den Brei gemacht und den Blinden geheilt hatte, war ein Sabbat. Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei. Er erzählte ihnen: »Der Mann strich einen Brei auf meine Augen, ich wusch mein Gesicht, und jetzt kann ich sehen.« Einige von den Pharisäern sagten: »Wenn er das getan hat, kann er nicht von Gott kommen, weil er die Sabbatvorschriften nicht einhält.« Andere aber sagten: »Wie kann jemand ein Sünder sein, der solche Wunder vollbringt?« Die Meinungen waren geteilt. Da befragten sie den Geheilten noch einmal: »Was hältst denn du von ihm? Du bist doch der, den er sehend gemacht hat.«»Er ist ein Prophet!«, antwortete der Mann. Die Pharisäer wollten ihm aber nicht glauben, dass er blind gewesen war und nun sehen konnte. Sie riefen seine Eltern und verhörten sie: »Ist das euer Sohn? Besteht ihr darauf, dass er blind geboren wurde? Wie ist es dann möglich, dass er jetzt sehen kann?« Die Eltern antworteten: »Wir wissen, dass er unser Sohn ist und blind geboren wurde. Aber wir haben keine Ahnung, auf welche Weise er sehend wurde oder wer ihn sehend gemacht hat. Fragt ihn selbst! Er ist alt genug, um selbst zu antworten.« Sie sagten das, weil sie vor den führenden Männern Angst hatten. Diese hatten nämlich beschlossen, alle aus der Synagogengemeinde auszuschließen, die sich zu Jesus als dem versprochenen Retter bekennen würden. Aus diesem Grund sagten seine Eltern: »Er ist alt genug. Fragt ihn selbst!« Die Pharisäer ließen den Blindgeborenen ein zweites Mal rufen und forderten ihn auf: »Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist!« »Ob er ein Sünder ist oder nicht, das weiß ich nicht«, entgegnete der Mann, »aber eins weiß ich: Ich war blind, und jetzt kann ich sehen.« »Was hat er mit dir gemacht?«, fragten sie. »Wie hat er dich sehend gemacht?« »Das habe ich euch schon erzählt«, sagte er, »aber ihr habt ja nicht zugehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Möchtet ihr vielleicht auch seine Jünger werden?« Da beschimpften sie ihn und sagten: »Du bist ein Jünger dieses Menschen! Wir aber sind Jünger von Mose. Wir wissen, dass Gott zu Mose gesprochen hat. Aber von diesem Menschen wissen wir nicht einmal, woher er kommt.« Der Geheilte antwortete: »Das ist wirklich seltsam! Ihr wisst nicht, woher er kommt, und mich hat er sehend gemacht! Wir wissen doch alle, dass Gott das Gebet von Sündern nicht hört. Er hört nur auf die, die ihn ehren und seinen Willen befolgen. Seit die Welt besteht, hat noch niemand von einem Menschen berichtet, der einen Blindgeborenen sehend gemacht hat. Käme dieser Mann nicht von Gott, so wäre er dazu nicht fähig gewesen.« Sie erwiderten: »Du bist ja schon von deiner Geburt her ein ausgemachter Sünder, und dann willst du uns belehren?« Und sie warfen ihn hinaus. Die Heilung selbst erscheint auf den ersten Blick wie ein Naturritual. Dem Blinden streicht Jesus Speichel-Brei auf die Augen. Doch weist Jesus mit diesem Brei wohl eher auf die Schöpfungs-Geschichte zurück. Der Mensch wurde aus Erde gemacht, diese Erde wird ihm wieder auf die Augen gelegt, eine neue Schöpfung bricht an. Der Blinde wird Gott sehen, wie Adam und Eva Gott im Paradies gesehen hatten. Die Augen stehen für die Fenster der Seele. Sie werden von Gott durch Jesu Hände berührt. Der Blinde muss Schritte des Vertrauens gehen. Um sich den Brei von den Augen zu wischen, reicht es nicht, das nächste Waschbecken aufzusuchen. Der Blinde muss sich entscheiden, ob er diesen Weg quer durch die Stadt auf sich nehmen will. Wird er vertrauen und gehen? Oder wird er sitzenbleiben, und nichts geschieht? Er geht, wird sehend, sieht Jesus und wird sein Nachfolger. Reaktionen auf Jesus Die Nachbarn sind Zaungäste, die den Mann schon lange kennen. Sie erwarten eigentlich nichts von Jesus und stellen fest: Das hatten wir noch nie! Die Pharisäer gleichen die Heilung mit Gottes Geboten ab und kommen zum Schluss: Eine Heilung am Sabbat ist verboten, also kann Gott nicht gewirkt haben. Die Eltern sind sicher hocherfreut über die Heilung, das setzen wir jetzt einfach mal voraus, aber sie wollen nicht auffallen. Das haben sie sicher gelernt, seit ihr Sohn blind geboren wurde. So schielen sie nach der Mehrheitsmeinung und halten sich aus der Diskussion raus. Nur der Geheilte selbst hat am eigenen Leib Gottes Wirken erfahren. Für ihn ist klar, Jesus kommt von Gott. Für dieses Bekenntnis wird er aus der Synagoge geworfen. Johannes 9,35-38 Die Antworten auf Jesu Wunder sind höchst unterschiedlich. Sie reichen von Keine-Erwartung über Kann-nicht-von Gott-Kommen, Die-Mehrheit-Entscheidet bis hin zu „Ich will zu Jesus gehören“. Wer ist nun Jesus? Ein Wunderheiler, ein Neuschöpfer, ein Hochstapler oder ein Lebensretter? Wie sieht meine Reaktion auf Jesus aus? Diese Jesus-Begegnung will Lebenshilfe sein. Sie wirbt, zu denen zu gehören, die sehen können. Ein erster Schritt ist, mich an die Stelle des Bettlers vor dem Tempel zu setzen. In einem Urlaub in Irland hatten wir als Familie unsere Blechblasinstrumente dabei. Iren lieben Blechbläser, so beschlossen wir, uns als Straßenmusikanten zu versuchen. Tatsächlich nahmen wir 22 Euro ein, die wir der dortigen Methodistengemeinde spendeten. Doch warum ich das erzähle: Diese paar Minuten waren die für mich peinlichsten meines Lebens. Ich kam mir ganz schrecklich vor, mit offenem Instrumentenkasten um Geld zu bitten. Ich hatte Phantasien, was die Leute von uns denken könnten, eine verarmte Familie aus Deutschland oder so ähnlich. Dabei machten wir das ja, um die Leute zu erfreuen, nicht um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wie schrecklich und entwürdigend muss es erst sein, nur mit Kaffeebecher da zu sitzen. Und bin ich wirklich bereit, diesen Platz vor Gott einzunehmen? Los und ledig all meiner Stärken und Verdienste, ganz abhängig und angewiesen auf seine Hilfe? Was erhoffe ich für
meinen Kaffeebecher? Gesundheit, Sicherheit, Liebe, einen Menschen, der
zu mir steht, Trost?
Es gibt ja auch die anderen
Plätze. Da, wo die Nachbarn stehen, ohne Erwartungen. Ich kann meinen
Glauben so leben, als ob er sich hinter einem Schaufenster abspielt, ich
mir aus dem Angebot das Beste raussuche und dann im Laden kaufe.
Dieser Blinde, der sehend wurde, will uns bewegen, unseren Standort zu verändern. Sein Platz als Bettler ist ja nun leer und bereit für uns. Wir können dort Platz nehmen und darauf vertrauen, dass Jesus auch uns berührt, uns neu macht und uns eine neue Sicht auf unser Leben und diese Welt schenkt. Daraus wächst eine neue Lebenshaltung, die alles durchdringt und bestimmt. Und vielleicht werden wir dann aufstehen und wie die Menschen im Mainzer Dom eine Kerze anzünden und ein tiefes Dankgebet sprechen: „Danke, dass du mir begegnet bist und mich liebst.“ Cornelia
Trick
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