Hanna - eine neue Zeit beginnt
Gottesdienst am 23.08.2009

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
in dem Roman des Portugiesen und Nobelpreisträgers José Saramagos, „Die Stadt der Blinden“ beschreibt er eine Stadt, in der alle Bewohner durch eine seltsame Epidemie erblinden. Nach und nach zerbricht das ganze gesellschaftliche Leben. Nur die Frau des Arztes wird nicht infiziert. Sie gibt zwar vor, auch blind zu sein, nutzt aber ihr Sehen-Können, um eine kleine Gruppe in dem allgemeinen Zusammenbruch zu schützen. Als das unvorstellbare Elend eskaliert, tasten sich alle zur Kathedrale vor. Die Frau macht dort eine furchtbare Entdeckung. Alle Skulpturen, die Personen auf den Gemälden und selbst Christus am Kreuz tragen Augenbinden. Die Frau erkennt nun das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Menschen sehen nichts mehr, aber viel schlimmer, sie werden auch nicht mehr gesehen. Und sie weiß, sie sind verloren.

Mancher kennt das Lebensgefühl, verloren zu sein in Leid, Lebens- und Alltagsproblemen. Wenn dann noch die Menschen wegbrechen, die einen wahrgenommen haben, wird die Einsamkeit fast unerträglich. Und Gott, sieht er einen wirklich? Oder trägt er auch Augenbinden wie der Christus in der unbekannten Stadt des Romans?

Einen Gegenentwurf zu der pessimistischen Weltsicht des Romans bietet die Bibel an. Sie erzählt in vielen Variationen davon, wie Gott Menschen wahrnimmt, ihr Elend sieht und nicht einfach zusieht, sondern sich hinein begibt in die Not und sie wendet. Das ist das große Thema der Geschichte Gottes mit den Menschen und findet ihren Höhepunkt in Jesus Christus, der Gottes Gemeinschaft jeder und jedem anbietet.

Heute möchte ich mit Ihnen eine Lebensgeschichte aus der Frühzeit Israels betrachten. Es ist eine Geschichte von Verzweiflung und Rettung, eine Geschichte, die exemplarisch vor Augen führt, wie Gott sieht. Und das nicht nur auf die eine Frau und ihre Situation, sondern auf unsere Welt, was Auswirkungen bis heute hat.

Hanna – eine Familiengeschichte

1.Samuel,10-11

Hanna war ganz verzweifelt. Unter Tränen betete sie zum HERRN und machte ein Gelübde. Sie sagte: »HERR, du Herrscher der Welt, sieh doch meine Schande und hilf mir! Vergiss mich nicht und schenk mir einen Sohn! Ich verspreche dir dafür, dass er dir sein ganzes Leben lang gehören soll; und sein Haar soll niemals geschnitten werden.« 

Es war die Zeit der Richter in Israel um 1050 vor Christus. Israel war in Stämmen organisiert, und Gott berief Richter, die außenpolitisch und innenpolitisch für Frieden sorgen sollten. Doch das Chaos breitete sich immer mehr aus. Die Richter vermochten vor allem im Inneren keinen Frieden mehr herzustellen. Die Menschen wandten sich von dem Gott ab, der sie aus Ägypten geführt hatte. Sie bauten Altäre für Fruchtbarkeitsgötter und beteten sie an. Sie begingen Verbrechen, was neue und schlimmere Verbrechen nach sich zog. Der Ruf nach einem König, der das Volk wieder einen konnte und sie zu Gott zurückführte, wurde immer lauter. Besonderes Chaos herrschte im Stamm Ephraim, dieses Gebiet ließ der Scheinwerfer der Geschichtsschreibung in den Mittelpunkt rücken. Und genau aus diesem Stamm Ephraim kam Elkana, der wohl einer der wenigen war, die an dem Gott Israels festhielten. Jährlich zog er mit seiner Familie zum Heiligtum in Silo, wo die Bundeslade stationiert war, denn Silo galt als ein besonderer Ort der Gottesnähe. Elkana war mit Hanna verheiratet, doch blieben dem Paar Kinder versagt. Nach orientalischer Sitte heiratete Elkana Peninna, um das gesellschaftlich geforderte Kind zu bekommen. Peninna bekam Söhne und Töchter, blieb allerdings die Zweckfrau für Elkana. Seine Liebe galt Hanna. Kein Wunder, dass es auch in diesem Jahr bei der Wallfahrt nach Silo Streit gab. Elkana bedachte Hanna mit einer Extraportion Opferfleisch, während Peninna sich mit ihren Kindern ein Stück teilen musste. Peninna ließ die Kränkung nicht auf sich sitzen und demütigte Hanna wegen ihrer Kinderlosigkeit. Elkana versuchte einzuschreiten, doch konnte er Hanna nicht trösten. Dass er der Hanna die Kinder ersetzen konnte, wünschte er sich, aber der Schmerz über einen versagten Lebenstraum, im Orient die wichtigste Entfaltungsmöglichkeit einer Frau, blieb.

So machte sich Hanna selbstständig und ging allein zum Eingang des Tempels, wo sie in Tränen ausbrach und stumm Gott ihr Herz ausschüttete. Hörte und sah Gott sie? Oder waren seine Augen verhüllt wie im eingangs erwähnten Roman?

Wir erfahren nicht viel über dieses Gebet. Hanna schüttete ihr Herz vor Gott aus. Sie ließ ihn Anteil haben an ihren Gefühlen, ihrer Trauer und der Hilflosigkeit, wie es weitergehen sollte in dieser schwierigen Familienkonstellation. Sie machte ihr Herz leer. Und genau in diesem Moment geschah wohl etwas Entscheidendes. Sie gab ihren Kinderwunsch in Gottes Hände. Sie machte ihr Herz so leer, dass selbst dieser große Wunsch nicht mehr von ihr festgehalten wurde. Und in Gottes Händen konnte er sich verändern. Hanna betete nicht länger um das Kind für sich selbst, das zu ihr gehörte und ihr die gesellschaftliche Anerkennung garantierte. Sie betete für das Kind, das für Gott da sein sollte. Sie betete darum, dass Gott an ihr das Wunder tat, sie mitwirken zu lassen an seiner Geschichte mit den Menschen.

Hannas Gebet wurde von dem gleichzeitig anwesenden Priester Eli bestätigt. Er hatte nur ihre Mundbewegungen beobachtet, wusste nichts von dem Inhalt ihres Betens, aber sagte ihr die Erhörung zu. Hanna, so wird berichtet, ging froh und verändert zurück zu ihrer Familie. Sie ließ es sich schmecken, sie hatte einen neuen Anfang gemacht. So wundert es nicht, dass sie tatsächlich einen Sohn bekam, den sie Samuel nannte. Die biblische Erzählung ist realistischer, als man annehmen könnte. Sie hält fest, dass Hanna ihren Sohn dann doch nicht gleich in die Tempelschule brachte, sondern sich Zeit ausbat, bis sie ihn entwöhnt hatte, was im Orient mindestens 3 Jahre bedeutete. Doch dann brachte sie ihn nach Silo. Auch hier ist es wichtig, die Erzählung genau zu lesen. Elkana und Hanna brachten Samuel zum Priester Eli, aber nur Elkana reiste zurück in die Heimat nach Ephraim. Hanna blieb wohl noch bei ihrem Sohn, der die Mutter brauchte. Doch wird klar: Hanna stellte sich mit ihrem Sohn in Gottes Dienst. Sie behielt den Jungen nicht für sich, sondern reiste ihm nach, um ihn bei seiner Lebensaufgabe zu fördern und zu unterstützen.

Die Familiengeschichte hat ein Happy End. Hanna bekam weitere 3 Söhne und 2 Töchter, sie hatte Gott ihr Wichtigstes geschenkt und hatte mehr bekommen, als sie erhoffte.

Hanna ermutigt, Gott aufzusuchen und ihm das Herz auszuschütten. Er erträgt es, mit der ganzen Not unseres Lebens überfrachtet zu werden. Und er füllt unser Herz mit Neuem. Unsere Wünsche, unser Sehnen verändern sich. Wir sehen nicht mehr uns und unsere Not im Mittelpunkt der Welt, sondern Gott, der das Beste für uns will und uns auch in der Not begegnen will. Unsere Wünsche werden auf ihn ausgerichtet und verlieren die Macht, die sie auf uns ausgeübt hatten. Statt in der Verzweiflung unterzugehen, hebt uns Gott hoch und lenkt unseren Blick auf das, was er für uns will. 

Die Ermutigung der Hanna-Geschichte ist wichtig für die Zeit des Durchhaltens. In ihrer dunkelsten Stunde standen ihr zwei Menschen bei, Elkana, der sie seiner Liebe versicherte, und Eli, der ihr Gottes Anteilnahme zusprach. Auch wir brauchen diese Menschen, die auf uns sehen und keine Augenbinde tragen. Und wir sind eingeladen, selbst solche Menschen zu werden, die ihren Arm um eine Weinende legen, die Gottes Verheißungen zusprechen und die durch Gottes Liebe erfüllt sind, um weiter zu begleiten, wie der Ehemann es durch die nächsten Jahre tat.

Hanna - Reich-Gottes-Geschichte

Hanna steht nicht nur für Familiengeschichte, sondern ist beteiligt an der Geschichte, wie Gott sein Reich aufbaut. Sie steht an der Schnittstelle zu einer neuen Zeit. Das Volk Israel versank in Gottlosigkeit und sexuellen Verbrechen, doch Gott ließ seine Auserwählten nicht aus der Schule. Er berief nun Propheten, die seine Meinung zu den Geschehnissen deutlich aussprachen und die Zukunft aufzeigten, wie Gott sie sah. Mit Hannas Sohn Samuel beginnt diese Phase im Reich Gottes. Die Propheten sollten zu Navigationssystemen werden. Sie hatten als Ziel das Kommen des Messias vorgegeben und bahnten als Gottes Sprachrohre den Weg bis dorthin. Nicht zufällig wurde Samuel unter solch dramatischen Umständen geboren. Es sollte Hanna und allen Generationen nach ihr klar werden, dass Samuel kein „normaler“ Junge war, sondern unter dem besonderen Einfluss Gottes stand. Nicht die Könige, die mit Samuel die neue Epoche bestimmten, standen unter Gottes ganz besonderem Auftrag. Sie kamen und gingen, sie wurden alle schuldig und konnten Gottes Ansprüchen nicht genügen. Der rote Faden der Geschichte Gottes sind die Propheten, die dem einen vorausgingen, der alle Eigenschaften auf sich vereinen sollte, Jesus Christus, König, Priester und Prophet.

Doch zurück zu Hanna, ihr wurde ein Psalm zugeschrieben, der in besonderer Weise Gottes Handeln preist. Er hört sich an wie ein Protest gegen die Weltordnung. Gott ist Herr, deshalb werden die Schwachen durch ihn stark und die Starken schwach. Er stürzt die vom Thron, die meinen, die Welt in der Hand zu haben. Aber die, die mit leerem Herzen und leeren Händen kommen, werden sie von ihm gefüllt bekommen.

Drei Aussagen dieses Psalms möchte ich hervorheben.

  • »Der HERR allein ist heilig; es gibt keinen Gott außer ihm. Auf nichts ist so felsenfest Verlass wie auf ihn.« (1.Samuel 2,2)
Hanna bringt ihre Gebetserfahrung auf den Punkt. Gott ist der Fels, der mitten in der Brandung stehen bleibt. Die Wellen brechen sich an ihm, aber können ihm nichts anhaben. Wer sich an ihm festklammern kann, wird nicht in die Tiefe gerissen. Und dieser Satz auf dem Lobpsalm der Hanna ist der Rettungsring.Rettungsring Bin ich in der Tiefe, so hoffe ich, dass jemand mir diesen Vers in Erinnerung ruft, ihn mir als Rettungsring zuwirft. Zwar bin ich dann immer noch im tosenden Meer und noch nicht gleich in Sicherheit. Aber ich darf wissen, dass Gott nicht blind ist, sondern mich zu sich zieht. Denn er hat auch das Meer im Griff und bleibt felsenfest bestehen. Allerdings kann die Rettungsaktion Gottes dem Leben eine völlig neue Richtung geben. Hanna ging mit ihrem Sohn nach Silo und blieb dort. Vielleicht muss ich aufbrechen aus dem Gewohnten und einem neuen Auftrag gehorchen.
  • »Der HERR tötet und macht lebendig, er verbannt in die Totenwelt, und er ruft aus dem Tod ins Leben zurück.« (1.Samuel 2,6)
Wir können diese preisende Aussage nicht als Lehre des Alten Testaments einordnen. Es ist ein Lobpreis, der Gottes allumfassende Gegenwart und Macht zum Ausdruck bringt und deshalb auch das Reich des Todes, das zum altorientalischen Weltbild gehört, einschließt. Aber es handelt sich um eine Glaubensaussage, die damals wie heute aktuell ist. Wer sich Gott anvertraut und zu ihm gehört, wird in Gottes Gegenwart entgrenzt. Für diese Beziehung gibt es kein Haltbarkeitsdatum „bis dass der Tod euch scheidet“. Diese Beziehung geht vom ewigen Gott aus, und er wird ewig festhalten. Durch Jesus wissen wir, dass Gott auch uns diese Ewigkeit ermöglicht, die wir aus eigener Kraft nicht in Gottes Gegenwart auf dem sicheren Fels bleiben können. Jesus zu vertrauen gibt uns den Halt, der uns bei Gott sein lässt. Auf diese Gewissheit durch Jesus weist Hanna hin. Noch ist es vollmundige Glaubensaussage, Gewissheit wird es erst am Ostermorgen in Jerusalem.
  • »Der HERR hält Gericht über die ganze Erde. Er hat seinen König erwählt und gesalbt, darum gibt er ihm große Kraft.« (1.Samuel 2,10)
Der König, von dem Hanna hier spricht, ist sicher zuallererst König Saul und in seinem Gefolge David und Salomo, die Ur-Könige Israels. Für sie ist der Prophet Samuel Wegbereiter, ihnen gibt er schon gleich am Anfang das Korrektiv mit, dass sie nur in großer Abhängigkeit von Gott regieren können und selbstmächtiges Handeln in den Untergang führen wird.

Hannas Aussage lässt uns heute auch an den einen König denken, der als König Israels gekreuzigt wurde, Jesus. Jesus ist gekommen und wird wiederkommen, um Gericht zu halten. Wer zu Jesus gehört, hat den Anwalt auf seiner Seite, der ihn vor Gott verteidigen wird. Der Anwalt hat alle Schuld beglichen. Das Gericht wird dem oder der, die auf Jesus vertraut, zur Einladung: Komm zum himmlischen Fest, du bist dabei! Wer diesem Jesus nicht vertraut, ihn nicht Anwalt im Gericht sein lässt, zu dem wird Gott sagen: Ich kenne dich nicht! Nein, Gott trägt keine Augenbinde. Im Gegenteil, er weiß genau, wo wir stehen. Aber er will unsere Blindheit heilen, dass wir Jesus sehen, der die Einladung zum Leben für uns in der Hand hält. 

Hanna lädt uns ein zum Herzensgebet. Sie zeigt uns, was Gottvertrauen bedeutet: loszulassen, um Gottes Auftrag zu finden. Und sie ist eine sehr frühe Zeugin für Jesus, der uns einlädt, ihm das Mandat für unser Leben zu geben. Er liebt uns am meisten und wünscht sich nichts sehnlicher, als mit uns das Fest in Ewigkeit zu feiern.

Cornelia Trick


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