Ein Blick hinter den Vorhang
Gottesdienst am 24.11.2002

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
ein Roman steht stellvertretend für viele Ängste in diesen Zeiten zunehmender Verunsicherung: Ann Benson, Die brennende Gasse. Beschrieben wird eine Zeit, die wenige Jahre in der Zukunft liegt. Ein Virus bedroht die Menschheit, viele müssen sterben. Alle Technologien werden eingesetzt, mögliche Ansteckungsherde auszuschließen und Kontrolle über das Virus zu erlangen. Doch es scheint kein Halten vor der Katastrophe zu geben. Die ganze Welt brennt. Einige findige Leute, darunter auch die Heldin des Buches, jedoch schaffen sich ein völlig abgeriegeltes Biotop, eine künstliche Welt, die unter einer Glasglocke alle nötigen Lebensbedingungen bereit stellt.

In dieser Geschichte steckt eine Zukunftsdeutung: Die Gegenwart ist bedroht und unsicher. Niemand weiß, was auf ihn zukommt. Rettung gibt es nur unter der Glasglocke. Und wir Christen? Wie schauen wir in die Zukunft? Bauen wir auf Glasglocken oder gar auf Selbstheilungskräfte, dass es schon irgendwie immer so weiter geht und uns nichts passiert? Oder arbeiten wir umso heftiger und panischer, um zu retten, was zu retten ist? Oder sind wir durch unseren Glauben voller Hoffnung, weil unsere Zukunft nicht unter Glasglocken, sondern beim Herrn ist?

Mich hat das Bild von der abgeriegelten Glasglocke erschreckt. Ich möchte ihm etwas entgegen setzen. Ein Bild aus dem Buch des Propheten Jesaja eignet sich dafür besonders gut. Das Buch Jesaja beinhaltet 200 Jahre Geschichte. Es beginnt in einer Zeit, in der sich das Volk Gottes wieder einmal von Gott abgekehrt hatte und auf seine eigenen Kräfte baute. Dieses Verhalten führte in die Katastrophe. Das Reich Juda zusammen mit der Hauptstadt Jerusalem fiel an Babylon, viele Bewohner wurden verschleppt, der Tempel als zentraler Ort der Gegenwart Gottes wurde zerstört. 

Mitten in die Not und Verzweiflung hinein brachte Jesaja Gottes Trost und Ermutigung zum Ausdruck. Das Gericht war vollzogen, nun schenkte Gott dem Volk einen neuen Anfang. Und wirklich kam es zum Wiederaufbau. Der jedoch verlief zäh und schleppend. Die Leute hatten bald andere Prioritäten im Kopf. Und wieder warb Gott durch Prophetenstimme um die Liebe seines Volkes und um neues Vertrauen.

Am Ende der Sammlung von Prophetenworten wird uns ein Zukunftsbild gemalt. Es erscheint wie eine Kulisse, die noch vom Theatervorhang verborgen ist. Doch der Prophet lüftet diesen Vorhang für einen kurzen Augenblick. Bruchstückhaft lässt sich erahnen, was da in der Zukunft wartet. Offenbar ermutigt und bewegt das Bild von der Zukunft. Damals bekamen die Leute wieder eine Idee davon, dass es sich lohnte, auf das Ziel hin zu leben und sich einzusetzen. Heute brauchen wir die Ermutigung in ähnlicher Weise. Eine Glasglocke wie in Ann Bensons Roman macht Angst und deprimiert, das Bild hinter dem Vorhang dagegen weckt Sehnsucht und gibt Kraft, die Gegenwart mit dem Bild im Herzen anzupacken.

Gott betreibt keine Gebäudesanierung

Jesaja 65,17-19a

Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. 

Hören wir ganz genau auf die Worte, so bleiben wir zuerst an dem Wort "Siehe!" hängen. Gott spricht und er will unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Worte sind zugleich Bilder, die wir sehen sollen. Mit Ohren und Augen, allen Sinnen sollen wir uns bereit machen für Neues. Und Gott spricht wirklich von Neuem, er "schafft" einen neuen Himmel und eine neue Erde. Immer, wenn von diesem Schaffen die Rede ist, dann ist Gott selbst am Werk. So wie er unsere Welt ins Dasein rief und schuf, so schafft er Neues. Es werden auf die alte Welt nicht einfach neue Fassaden aufgeklebt. Die Welt wird nicht in Isolierschichten eingepackt, damit es bei uns endlich gemütlicher zugeht und mehr Friede einkehrt. Da entsteht etwas grundsätzlich anderes.

Dieses Neue ist fast erschreckend. Haben wir uns doch in unserer Welt ganz gut eingerichtet. Nicht alles ist nur schlecht, es gibt wunderschöne Momente, blühende Landschaften, Glück und Liebe. Wir würden das Gute gerne festhalten und hinüberretten in die neue Welt, sozusagen als Gerippe, das dann einfach mit neuer Baumasse aufgefüllt wird wie bei einem alten Fachwerkhaus.

Doch davon sprechen die Worte Gottes nicht. Das einzige, das bleibt, ist Gott, sein Schaffen und seine Fürsorge für uns. Darauf sollen wir uns ganz und gar verlassen. Ja, die Worte Gottes sprechen eine noch deutlichere Sprache. Die Erinnerung an die Altlasten soll ganz und gar ausgelöscht werden. Wenn alles neu wäre, wir aber unsere Altlasten von Verletzungen, Vorwürfen, Missgunst und negativen Gefühlen mitnehmen würden, wäre das Neue bald wieder wie das Alte. Ein neues Haus mit uralten Möbeln und versifften Teppichen gibt kein Gefühl von Neuanfang, da wird das alte Leben nahtlos fortgesetzt, ja auch der Geruch im Haus wird bald der alte sein.

So will Gott es mit seiner neuen Welt nicht. Er will uns, die wir ihm vertrauen, in eine neue Welt führen, aber ohne all das, was uns von Gott trennt. Ohne Misstrauen, ohne negative Gefühle und Einstellungen, ohne das Gefühl, selbst stark genug zu sein oder das Leben nicht zu meistern. Gott will uns als Seelsorger in diese neue Welt führen. Er heilt unsere Wunden, er räumt unser Misstrauen aus. Er vergibt unsere Sünde der Selbstüberschätzung und Verzweiflung.

Die neue Welt Gottes ist von Freude bestimmt. Gott freut sich wie nach der ersten Schöpfungswoche: "Siehe, alles ist sehr gut!". Jetzt kommt zur Vollendung, was damals begann. Er freut sich über sein Volk, Menschen, die ihm vorbehaltlos vertrauen. Er freut sich, wie Jesus sagte, über einen Sünder, der umkehrt zu ihm. Wer umkehrt und seinem Leben eine neue Richtung gibt, löst Gottes Freude schon in dieser alten, eigentlich schon überholten Welt aus. Als Christen stehen wir mittendrin im Schöpfungsgeschehen, erfahren die Freude Gottes, die jetzt schon aufblitzt, als ob der Vorhang ein bisschen zur Seite gezogen wäre.

Das Zukunftsbild des Propheten erzählt die Schöpfungsgeschichte neu. Sinn ist die Gemeinschaft mit Gott, Ziel ist, dass Gott sich freut über diese Gemeinschaft und wir in dieser Freude leben dürfen.

Ein Werbeprospekt

Jesaja 65,19b-25

Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern  als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und  ihre Früchte essen. Sie sollen nicht  bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein  wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

Diese Aussagen passen zu einem Werbeprospekt. Wer ihn in die Finger bekommt, spürt Sehnsucht nach dem fernen Ziel. Und wir haben diesen Prospekt hiermit in den Händen und können ihn weiter geben. Wir können einladen, sich auf diese Aussichten zu freuen. Denn die neue Welt hat nichts gemein mit gläsernen Welten oder anderen Versuchen, im Untergang das Gute noch zu retten. 

Seite 1: Sie sollen keine Kinder für einen frühen Tod zeugen

Der Neuenhainer Friedhof ist nicht groß. Doch als ich ein bestimmtes Grab suchte und nicht fand, bin ich systematisch die verschiedenen Grabfelder abgelaufen. Etwas außerhalb des Hauptweges, aber ganz in der Nähe der Kappelle, bin ich auf die Kindergräber gestoßen. Es sind nicht viele und ihre Grabsteine sind zum Teil durch das Alter schon sehr verwittert. Die Inschriften zeugten von dem kurzen Leben, das dort zu Grabe getragen wurde. Wenige Tage, ein paar Jahre, unvollendet und erst in der Entfaltung, waren diesen Kindern zugemessen. Die Bepflanzung zeugt von der Liebe, die diesen Kleinen entgegen gebracht wird bis heute. Sie zeugt auch von dem abgrundtiefen Schmerz der Eltern, die hier ihr Liebstes begraben haben.

Ist darin ein Sinn zu erkennen? Kann man da vollmundig von Gottes Willen reden, der immer das Beste will und schon alles richtig macht? Bleibt uns nicht gerade angesichts dieser Gräber das Wort von Gottes weisem Ratschluss im Halse stecken? Wozu hat er das Kind ins Leben gerufen, wenn es doch keine Chance bekam, das Leben auszufüllen? Ich meine, dass Gottes Wort uns hier wirkliche Lebenshilfe gibt. Glückliche KinderGottes Schöpfung sieht den Tod der Kinder nicht vor. 

Leben heißt nach Gottes Willen, sich zu entwickeln, Gaben zu entfalten, Liebe zu empfangen und zu schenken, Verantwortung zu übernehmen und lebenssatt zu werden, Früchte einzufahren und sie zu genießen. In Gottes neuer Welt dürfen wir Menschen leben, bis wir satt und erfüllt sind. Mit Jesu Auferstehung ist auch die letzte Grenze des Todes durchbrochen, wir dürfen immer in Gottes Gegenwart leben, nichts wird uns in seiner neuen Welt mehr von ihm trennen.

Am Grab eines Kindes möchte ich an dieser Hoffnung festhalten. Gott wird Neues schaffen. Und zu dieser neuen Welt gehören die Kinder, die einen sinnlosen Tod sterben mussten, in dieser neuen Welt sind sie von Gottes Liebe und Barmherzigkeit umgeben. Und wir dürfen dieser Barmherzigkeit vertrauen, auch in der Stunden der größten Zweifel und der grenzenlosen Trauer.

Seite 2: Sie werden Häuser bauen und bewohnen

Für uns mag in diesem Satz gar nicht soviel Zukunft liegen. Viele Leute bauen sich hier Häuser und bewohnen sie, das - so könnten Sie einwenden - ist doch hier und heute eher Normalfall. Aber nicht weit von uns entfernt hören Menschen diese Worte als absolute Zukunftsmusik. Ein Haus zu bauen, können sie sich nicht leisten. Manche haben ein Zelt, einige ein Stück Blech, andere hatten einmal ein Haus, aber wurden mit Gewalt vertrieben. Ihre Sicht müssen wir einnehmen, um das Zukünftige der Botschaft zu hören.

Es wird in Gottes neuer Welt jeder sicher und geborgen wohnen dürfen. Jesus versprach seinen Jüngern, dass er im Himmel Wohnungen für sie bereit hielte. Das gleiche Bild gebrauchte er um klar zu machen: Wir dürfen auf Heimat, Schutz und ein herzliches Willkommen hoffen. Aus Gottes Gegenwart darf uns niemand mehr vertreiben. Und auch der moderne Mensch des Informationszeitalters, der von einem Ort zum anderen jettet und kaum noch Bodenhaftung hat, darf es hören: Er wird in dieser neuen Welt nicht pausenlos hin- und hergeschickt. Er darf Ruhe finden und Wurzeln schlagen.

Seite 3: Sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen

Die dritte Aussage schließt sich eng an die zweite an. Wenn wir in Gottes Welt ortsansässig sein und bleiben können, wird Saat und Ernte nicht mehr schwierig sein. Keiner wird uns kurz vor der Ernte von unserer Scholle vertreiben. Kein Chef wird das Industrieprojekt abschießen, das über Monate vorangetrieben wurde und nun nicht mehr zum Abschluss kommen darf. Kein Lehrherr wird seinen Azubi auf die Straße setzen, der gerade seine Prüfungen zum Gesellen abgeschlossen hat. Arbeit wird nicht frustrierend, also wörtlich nicht vergeblich sein. Das raue Arbeitsklima, das wir oft so bedrückend empfinden, die Fülle an Arbeit und gleichzeitig der ständige Stellenabbau, das alles kommt in Gottes neuer Welt nicht vor. Es gehört zu unserer alten Welt, die durch die Sünde und Trennung von Gott entstellt und oft ins Gegenteil verkehrt ist. In der neuen Welt, da wird Arbeit Freude machen. Saat und Ernte, Planung und Ausführung werden zusammen gehören. Nach einem Arbeitstag wird man befriedigt sein, weil man Sinnvolles beigetragen hat.

Seite 4: Ehe sie rufen, will ich antworten

Drei Seiten des Werbeprospekts beschäftigten sich mit der neuen Erde. Die 4. Seite gibt den Blick auf den neuen Himmel frei. Noch vor kurzem schrie das Volk "O Heiland, reiß die Himmel auf" (Jesaja 63,19), jetzt ist der Himmel offen, Gott ist geradezu begierig, nach unserem Beten und Rufen. Er will schneller hören, als wir überhaupt reden können. 

Und auch hier erkennen wir die Anklänge an die erste Schöpfungsgeschichte. Bevor Adam sich über seine Einsamkeit beschweren konnte, schuf Gott ihm schon ein Gegenüber. So qualifiziert sich der neue Himmel, Gott kennt unsere Bedürfnisse und Fragen, unser Beten ist bei ihm aufgehoben. Nie mehr werden wir zweifeln, ob unser Gebet Gott erreicht hat, die Beziehung zwischen Himmel und Erde ist geheilt. Diese Heilung hat Auswirkungen auf die ganze Schöpfung. Die Tiere sind mit eingeschlossen. LöweDer Friede hat Fortsetzung.

Der Werbeprospekt in unserer Hand

Als Christen haben wir Grund zur Hoffnung und wir haben Grund, davon zu erzählen. Keine künstlichen Welten unter Glasglocken erwarten uns, sondern lebendige Beziehung zu unserem Schöpfer, der uns heilt.

Als Gemeinde Jesu rufen wir zur Umkehr. Gott möchte die heile Beziehung zu uns schon heute beginnen als Vorgeschmack auf das Neue, das uns erwartet. Jesus zu vertrauen ist das Band, das uns mit der neuen Welt jetzt schon verbindet. Und seine Freude über uns macht sich schon hier und heute bemerkbar.

Sich auf das Neue zu freuen, setzt uns in Bewegung. Jesaja ermuntert die Gemeinde, mit den Hungrigen das Brot zu teilen (Jesaja 58,9f), sie nicht zu unterdrücken, den Frieden Gottes schon zu leben. Seine Ermutigung gilt auch uns. 

Die Zukunft im Herzen zu tragen, lässt uns frei werden, uns einzubringen als Leute, die trösten und begleiten, vergeben und teilen. Um die gläsernen Welten brauchen wir uns ja nicht zu kümmern und Schäfchen ins Trockene zu bringen, haben wir auch nicht.

Die Gemeinde ist mit Gott im Gebet verbunden. An dieser Stelle ist der Vorhang schon gelüftet. Der Herr hat sich in Jesus Christus dafür verbürgt, unsere Gebete zu hören. Wir können davon Gebrauch machen, hoffnungsorientiert zu beten. Dinge, die selbstverständlich sind, brauchen nicht die großen Zusagen Gottes, aber Anliegen, die unsere Vorstellungskraft sprengen, gehören in den Himmel, zu Gott. Er hält, was er verspricht und seine Zukunft hat in Jesus schon begonnen. Das dürfen wir dem Bild des Jesaja hinzufügen.

Cornelia Trick


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