Du bist nicht allein
Gottesdienst am 29.05.2011

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
eine Frau steht mit ihrem Koffer vor einer Häuserzeile. In einzelnen Fenstern brennt Licht. Die Frau schaut hinauf, streicht sich die wehenden Haare aus dem Gesicht und stöhnt auf. Frau vor dem HausSie sieht ihren Mann hinter der Gardine stehen, ihren Sohn, ihre Tochter. Böse Worte waren gerade gefallen, wie immer war sie der Sündenbock für alles. Die Kinder fanden ihre Sachen nicht und beschuldigten sie. Ihr Mann mäkelte am Essen herum, weigerte sich, ihr beim Haushalt zur Hand zu gehen und schimpfte über Rechnungen, die sie angeblich verursacht hatte. Da ist ihr der Geduldsfaden gerissen, sie packte den Koffer und verließ die Wohnung. Bei einer Freundin würde sie erstmal unterschlupfen können. – 15 Jahre Ehe, und alles umsonst? Jetzt stand sie allein hier auf der Straße und ihre Lieben machten es sich vor dem Fernseher bequem? O wie sie sie beneidete. Aber sie war allein.

Diese Szene, die wir eben als Theaterstück gesehen haben, scheint nicht weit weg zu sein. Einigen von uns war es wahrscheinlich auch schon nach Kofferpacken und Abhauen zumute. Weg von Ehe und Familie, weg vom Arbeitsplatz, weg von belastenden Beziehungen, weg von Demütigungen und Streit. Man fühlte sich ganz allein, ohne Hilfe, ohne Perspektive.

Die Bibel erzählt von einer Frau Hagar. Es ist eine Mutmach-Geschichte, die uns deutlich macht: Egal wie du dich fühlst, du bist nicht allein. Hagar war ägyptische Sklavin im Haushalt von Abraham und Sara. Gott hatte Abraham und Sara die Verheißung gegeben, dass sie viele Nachkommen haben werden, ein großes Volk werden würden. Doch Sara blieb kinderlos. Schon 10 Jahre war das Ehepaar sesshaft geworden, und immer noch stellten sich keine Kinder ein. Sara wurde ungeduldig. Wir hören nichts davon, dass sie ihr Problem mit Gott besprach, sondern dass sie selbst kreativ wurde. Wenn Gott schon nicht zu seinem Wort stand, wollte sie ihm ein wenig nachhelfen. Nach damaligem Recht konnte die Sklavin Leihmutter der Herrin sein. So brachte sie diesen Plan Abraham nahe. Doch der wirkt seltsam teilnahmslos. Er scheint kein Gespür für die Brisanz der Lage zu haben, sich nicht an Gottes Verheißung zu erinnern. Man kann sich richtig vorstellen, wie er da träge vor dem Zelt lag und bei sich dachte: “Lass die nur reden, Hauptsache, ich habe meine Ruhe.“ Und so wurde die Sara-Offensive umgesetzt, Hagar scheint bei der Entscheidung keine Rolle gespielt zu haben.
Hagar wird schwanger, und augenblicklich verschieben sich die Hierarchieverhältnisse. Die Herrin war auf einmal abhängig von der Sklavin, und die ließ es Sara spüren. Der Friede im Haus war dahin. Sara begehrt auf: „Der Herr soll mir Recht verschaffen.“ Aber da sie sich vorher nicht um Gottes Willen geschert hat, bleibt der auch jetzt stumm. Auch Abraham soll ihr Recht verschaffen. Doch der winkt nur ab, es sei nicht seine Angelegenheit. Sara soll sich nur kümmern. Und Sara kümmert sich, demütigt die Sklavin, weist ihr mit Gewalt den ihr zugedachten Platz zu. Mittel zum Zweck ist die Sklavin Hagar. Hagar leidet unter diesem Mobbing und flieht in die Wüste. Bei einem Brunnen macht sie halt. Sie ist am Ende – ähnlich wie die Frau mit Koffer auf der Straße.

1.Mose 16,7-8

Aber der  Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Saras Magd, wo kommst du her, und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sara, meiner Herrin, geflohen.

Begegnung am Brunnen

Ein Bote Gottes begegnet Hagar am Brunnen. Er redet sie mit ihrem Namen an. Sie ist für ihn kein anonymes Opfer mit einem anonymen Schicksal, sondern die eine und unverwechselbare Hagar. Der Bote fragt Hagar nach dem Woher und Wohin ihres Weges. Hagar darf erzählen und ihr Herz ausschütten. Der Bote wertet nicht und bevormundet nicht. Für ihn ist sie nicht Mittel zum Zweck. So gibt sie ihm die ehrliche Antwort, sie ist ihrer Herrschaft davongelaufen, in ihrem Zustand ohne Perspektive. 

1.Mose 16,9-15

Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn  der HERR hat dein Elend erhört. Er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird wohnen all seinen Brüdern zum Trotz. Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen  »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht«. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael.

Der Bote antwortet Hagar, aber er sagt ihr keine rosige Zukunft voraus. Sie soll wieder zurück gehen in ihre Verhältnisse. Später, so wissen wir es bereits, wird sie ihren eigenen Weg gehen, aber auch nicht ganz freiwillig. Obwohl der Bote Hagar eigentlich die denkbar schlechteste Alternative vorlegt, sieht Hagar in ihm den Boten Gottes, der sie in ihrem Elend anschaut, sie versteht und ihr hilft. Sie hört seine Verheißung. Der Sohn soll Ismael heißen, was bedeutet: Gott hat erhört. Groß und stark soll er werden, viele Nachkommen wird er haben. Auch wenn für Hagar der Weg zunächst steinig und beschwerlich sein wird, ist die Zukunft eröffnet. Ihr Leben hat Sinn, Gott hat mit ihr etwas vor. Sie darf sich sicher wissen an Gottes Hand. Sie suchte Gott nicht in der Wüste. Sie kannte ihn als Ägypterin vielleicht gar nicht, doch er hat sie dort am Brunnen gesucht und gefunden. Von den nächsten Menschen wurde Hagar gedemütigt und missbraucht, von Gott wird sie wertgeschätzt und geliebt. Das gibt Hagar Kraft, zurück zu gehen in die bedrängende Situation im Haushalt von Abraham und Sara. So antwortet sie Gott „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Es kommt ihr vor, als habe sie Gott hinterher geschaut, nachdem er sie durch den Boten berührt und verändert hat.

Gut 1200 Jahre später kommt es zu einer neuen Brunnen-Begegnung. Wieder ist es eine Frau, die erschöpft, kraftlos und vom Leben gezeichnet am Brunnen steht. Der Bote Gottes ist Jesus, der diese Frau anspricht und um Wasser bittet. Ein längeres Gespräch schließt sich an. Die Quintessenz dieses Gespräches: Jesus lädt sie ein, ihm zu vertrauen. Er möchte ihr lebendiges Wasser schenken, das ihren Durst nach Lebenssinn stillt. Er möchte ihr helfen, ihre chaotischen Lebensumstände aufzuräumen, ihre Wunden zu heilen und ihr die Kraft zu geben, andere um Vergebung zu bitten. Mit ihm wird sie fähig, ihr Leben auf eine neue Schiene zu setzen. Diese Frau, so hören wir es im Johannesevangelium, Kapitel 4, lässt sich auf Jesus ein, vertraut ihm und bekommt einen neuen Blick für ihr Leben und ihre Umwelt. Statt sich zu verstecken, geht sie in ihr Dorf und lädt andere zu Jesus ein. Sie wird selbst zur Botin Gottes, befähigt durch den einzigartigen Boten Jesus, Gottes Sohn.

Noch mal 2000 Jahre später erleben wir die Brunnen-Begegnungen selbst. Krisen führen uns in Wüsten. Beziehungsnöte, Arbeitskämpfe, Krankheiten, Lebensängste und Einsamkeit können zu solchen Wüsten werden. Wer in einer solchen Situation steckt, kann leicht denken: Keiner geht mir nach, keine versteht mich, keiner sieht mich. Ich habe mich hoffnungslos verrannt und Zukunft gibt es für mich nicht. Aber Jesus sieht, geht nach und findet, heute genauso wie damals bei der Samariterin. Jesus ist nicht nur ein Engel, der zu besonders heftigen Zeiten ins Leben tritt und Weichen stellt, sondern er wurde Mensch, um uns immer nahe zu sein. In den tiefsten Abgründen, aber auch in sonnigen, luftigen, begeisterten Höhen. Seine befreiende Botschaft an uFrau am Jakobsbrunnenns heute ist, dass wir nichts „tun“ müssen, damit er uns findet. Wir müssen uns nicht besonders moralisch anstrengen, kein Guthabenkonto vorweisen. Wir können mit allem Gepäck, aller Not, aller Schuld und den nicht lösbaren Problemen uns finden lassen. Denn Jesus kennt jeden und jede von uns mit Namen. Er schickt Botinnen und Boten, die uns auf seine Liebe aufmerksam machen, uns stellvertretend für ihn „finden“ am Brunnen.

Angenommen, ich werde von Jesus an meinem persönlichen Brunnen gefunden. Wie geht es weiter? Jesus sagt: „Komm! Komm her, der du mühselig und beladen bist, ich will dich erquicken.“ (Matthäus 11,28) Um zu Jesus zu kommen, muss ich erstmal sein Gesicht Jesus zuwenden und seinen Körper auf ihn ausrichten: Mich von Jesus finden zu lassen, ist das Erste, zu Jesus kommen, dann eine Willensentscheidung. Will ich ihn kennen lernen? Will ich mich ihm zuwenden? Gehe ich das Abenteuer an, mein Leben von ihm verändern zu lassen? Meine Werte, meine Prioritäten auf den Kopf stellen zu lassen? Meine Dunkelheiten ihm hinzulegen und darauf zu vertrauen, dass er Licht hinein bringt? Und ich muss loslassen, meine Hände und meinen Kopf frei bekommen, um mich auf das Neue auszurichten. Vielleicht geht es mir dann wie Hagar, ich werde erstmal zurück geschickt in demütigende Situationen, vielleicht werde ich auch aufgefordert, ganz neu aufzubrechen. Auf jeden Fall muss ich nicht mehr allein weitergehen, Jesus geht mit. Mit ihm kann ich reden, ihm mein Herz ausschütten. Von ihm Geduld geschenkt bekommen, wenn es dran ist.

Aber vielleicht bin ich auch die, die Jesus als Botin aussendet. Meine Aufgabe ist es, andere an Brunnen zu treffen und sie mit Gottes Liebe bekannt zu machen, sie zu trösten, zu ermutigen, ihnen lebendiges Wasser anzubieten. Da erlebe ich viele bewegende Begegnungen, die mich selbst immer sicherer machen, dass Jesus nichts mehr möchte, als an den Brunnen des Lebens Menschen zu finden, die ihn nötig brauchen.

Ein Bild von Sieger Köder, „Die Frau am Jakobsbrunnen“ drückt diese Gegenwart Jesu am Brunnen des Lebens einmalig aus. Eine Frau steht allein oben am Brunnenrand und schaut in die Tiefe. Dort sieht sie ihr Spiegelbild. Aber daneben spiegelt sich ein anderes Gesicht im Wasser. Es ist wohl Jesus, den sie zwar nicht körperlich neben sich hat, der aber immer bei ihr ist – sichtbar und unsichtbar, oft nur im Spiegelbild der Ereignisse wahrzunehmen. Ein Ermutigungsbild für mich: Du bist nicht allein!

Cornelia Trick


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