Der letzte Schrei (Markus 9,14-27)
Gottesdienst am 19.1.2020 in Brombach

Liebe Gemeinde,
seit 1934 gibt es jährlich einen Vers aus der Bibel als Jahreslosung im deutschsprachigen Raum. Otto Riethmüller, Pfarrer und Liederdichter, startete damals die Initiative gegen Schlagworte der NS-Propaganda. Er wollte Worte Gottes dagegensetzen. Seit 1969 ist auch die katholische Kirche dabei. Wir haben also ein Wort, das in allen christlichen Kirchen ein ganzes Jahr die Überschrift oder zumindest ein wichtiger Impuls sein soll. Wir können es uns vorstellen wie einen kleinen Kieselstein im Portemonnaie, der uns immer wieder an etwas Wichtiges erinnert.

Die diesjährige Jahreslosung wurde in unserer Gemeinde wieder graphisch umgesetzt. Jahreslosung 2020: Ich glaube, hilf meinem UnglaubenBildmotiv ist ein Mensch mit dem Titel „Playing With the Wind“, aus zusammengeschweißten Metallstücken (Moniereisen) erstellt. Er steht seit November 2015 an der Strandpromenade von Morro Jable auf Fuerteventura und ist von dem Künstler Amancio González geschaffen worden. Auf unserem Banner in der Kirche ist er aus seiner Strandumgebung herausgeholt und auf seiner Stele über die Wolken gestellt worden, mit ausgebreiteten Armen gen Himmel.

Beim unvoreingenommenen Betrachten des Bildes sind mir Assoziationen gekommen. Ein aus Metallstücken zusammengesetzter Mensch, er scheint eingespannt in Alltag und Sorgen. Die wirken wie ein Korsett, aus dem er sich nicht selbst befreien kann, aber geben seinem Dasein auch Form und Struktur.

Der Mensch steht auf einer Säule. Warum? Was hat ihn dorthin getrieben? Wurde er verfolgt und fand auf der Stele letzte Rettung? War es Ruhm, der ihn nach oben katapultierte und dort einsam werden ließ? Hatte er eine falsche Entscheidung getroffen und war nun auf seiner Sackgasse gefangen? Ein Zurück scheint unmöglich, nur die Flucht voraus bietet zumindest eine Chance. Man will ihm zurufen: „Spring!“ Aber ist einer da, der ihn auffängt unter der Wolkendecke? Wird er zerschellen oder weich fallen? Wird sich danach etwas für ihn ändern, oder wird er die nächste Stele hinaufhetzen?

Dieses Bild ist eine Interpretation der Jahreslosung für 2020:
Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24)

Ich springe, aber ich habe Angst, dabei kaputt zu gehen. Hilf mir, Herr, dass ich dir und deinen offenen Armen vertrauen kann. Gib mir einen Schubs, dass ich wirklich springe und nicht ewig da oben verharre. 

Dieser Schrei der Jahreslosung ist eingebettet in eine Jesus-Begegnung, die uns mitnimmt auf eine Berg-und Talfahrt des Glaubens.

Die Vorgeschichte (Markus 9,2-9):
Jesus hatte sich mit drei Jüngern auf einen Berg zum Gebet zurückgezogen.  Dort machten sie eine besondere Gotteserfahrung. Jesus wurde direkt von seinem himmlischen Vater angesprochen, er war umgeben von Elia und Mose, stand in göttlichem Glanz. Die Jünger wollten in dieser himmlischen Szene bleiben, sie wollten Hütten bauen und nicht mehr ins Tal absteigen. Doch noch waren sie nicht im Himmel, Jesus brach mit ihnen wieder auf ins Tal, lediglich ein kleiner Vorgeschmack war möglich.

Die Jünger

Markus 9,14—16
Jesus kam mit den drei Jüngern zu den anderen zurück. Er fand eine große Volksmenge um sie versammelt. Darunter waren auch einige Schriftgelehrte, die mit den Jüngern stritten. Die Volksmenge sah ihn sofort und wurde ganz aufgeregt. Die Leute liefen zu ihm hin und begrüßten ihn. Und er fragte sie: »Worüber hattet ihr Streit mit meinen Jüngern?«

Was war passiert? Die neun im Tal gebliebenen Jünger hatten im Hinterkopf, sie sollten, auch wenn Jesus nicht da war, in seinem Sinne handeln. Sie überlegten wohl, wie Jesus auf einen Vater mit einem kranken Kind reagiert hätte. Er hätte den Jungen geheilt. Also versuchten die Jünger es auch, doch sie scheiterten. Der Junge wurde nicht gesund. 

Hier berührt sich das Erleben der Jünger mit Jesu Nachfolgern über zwei Jahrtausende. Mit den neun Jüngern stehen wir so oft vor dem Leid der Welt und sind ohnmächtig. Wie gerne würden wir zu den Kranken um uns herum sagen: „Nimm dein Bett, steh auf und geh!“. Warum können wir im Namen Jesu nicht mehr bewegen? Was machen wir falsch?

Markus 9,28-29
Dann gingen Jesus und seine Jünger nach Hause. Als sie allein waren, fragten die Jünger ihn: »Warum konnten wir den bösen Geist nicht austreiben?« Er antwortete ihnen: »Solche bösen Geister können nur durch das Gebet ausgetrieben werden.«

Jesu Antwort auf diese Fragen führt den Jüngern vor Augen, dass Gottes Kraft kein Zaubertrank ist, den man in Fläschchen zur Verfügung gestellt bekommt und bei Bedarf einsetzen kann. Die Kraft Gottes ist nur erlebbar in Abhängigkeit zu Jesus, er ist der Motor, der uns zum Handeln anreizt und dann das Gelingen schenken kann. Gebet, das Jesus hier einfordert, meint nicht nur Händefalten und Worte sprechen, sondern bedeutet eine ganze Lebenshaltung, sich Jesus anzuvertrauen, dass er durch mich, durch uns wirken kann. Ihm nicht unsere Pläne und Kräfte in den Weg zu stellen, sondern ihn machen zu lassen. Wir haben es nicht in der Hand, ob Jesus so oder so durch uns handelt, dass er diesen Menschen gesund macht oder ihn gerade heute gesund werden lässt. Es erfordert langen Atem, Sensibilität und ein bisschen Sturheit, sich von Jesus gebrauchen zu lassen. Sturheit meine ich in dem Sinne, dass ich festhalte daran, dass er mich liebt, meinen Einsatz will und alles zum Besten fügen wird. 

Vater und Sohn

Markus 9,20-27
Und sie brachten den Jungen zu Jesus. Sobald der Geist Jesus sah, schüttelte er den Jungen durch heftige Krämpfe. Er fiel zu Boden, wälzte sich hin und her und bekam Schaum vor den Mund. Da fragte Jesus den Vater: »Wie lange hat er das schon?« Er antwortete: »Von klein auf. Der böse Geist hat ihn auch schon oft ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Wenn du kannst, dann hilf uns! Hab doch Erbarmen mit uns!« Jesus sagte: »Was heißt hier: ›Wenn du kannst‹? Wer glaubt, kann alles.« Da schrie der Vater des Jungen auf: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben.« Immer mehr Menschen kamen zu der Volksmenge. Als Jesus das sah, gebot er dem unreinen Geist: »Du stummer und tauber Geist, ich befehle dir: Verlasse den Jungen und kehre nie wieder in ihn zurück!« Da schrie der Geist auf und schüttelte den Jungen durch Krämpfe hin und her. Dann verließ er ihn. Der Junge lag da wie tot. Schon sagten viele: »Er ist tot.« Aber Jesus nahm seine Hand und zog den Jungen hoch. Da stand er auf.

Der Vater hatte wohl vom Hörensagen von Jesus erfahren. Er ging zu ihm wie ein Ertrinkender, der das vorbeischwimmende Treibholz greift, um sich daran festzuklammern. Doch er fand nur Jesu Freunde vor. Die konnten ihm offenbar nicht helfen. Als nun Jesus selbst auftaucht, wagt der Vater noch einmal einen letzten Anlauf: „Kannst du mehr als deine Freunde?“ Er appelliert an Jesu Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit. Jesus scheint gar nicht auf seine Not zu reagieren, sondern noch die unfähigen kleingläubigen Jünger im Hinterkopf zu haben. Die müssten doch einfach gewusst haben, dass der Glaube Berge bewegen kann. Von dem Vater mit seinem kranken Kind konnte man das nicht erwarten. Doch der Vater hört die Botschaft Jesu wohl. Er fühlt sich ertappt. Ja, er will Jesus vertrauen, er will im Stillen beten: Dein Wille geschehe. Aber auf der anderen Seite will er auch, dass sein Sohn gesund wird. Wird Gottes Wille mit seinem übereinstimmen? 

Viele Aber werden ihm im Kopf herumgeschwirrt sein:

Warum sollte gerade sein Gebet erhört werden? Der Vater wusste ja selbst, dass nicht jeder, den Jesus traf, auf der Stelle gesund wurde. Jesus war kein Magier, der mit seinem Zauberstab durch die Gegend lief und Menschen vom Boden aufstehen ließ. 

Vielleicht dachte der Vater auch über sein bisheriges Leben nach. Hatte er immer in Verbindung zu Gott gelebt? Hatte er nicht auch sein eigenes Ding gedreht? Und konnte er jetzt davon ausgehen, dass Gott sich um ihn kümmerte, wo er sich doch oft so gleichgültig verhalten hatte?

Ein wohl moderner Gedanke kommt mir beim Hören auf diese Begegnung. Gibt es diesen Gott, in dessen Auftrag Jesus sich um einen einzelnen Menschen kümmerte? Greift Gott konkret in menschliches Leben ein? Wie sollte das funktionieren? Mit Menschenverstand ist es nicht zu erklären.

Der Vater wird manche Einwände selbst in seiner Seele bewegt haben. Doch er wendet sich nicht grübelnd und verzweifelt ab, sondern richtet seinen Schrei an Jesus. Er wird mit diesem letzten Schrei zum Vorbild. Er schleudert Jesus seinen letzten Hoffnungsfunken entgegen. Er greift nach Jesus und hält an der Beziehung fest, die sich ihm hier bietet. Er springt – mit dem Bild vom eisernen Mensch auf der Stele - in Jesu Arme und gibt sich ihm hin im Vertrauen, dass Jesus ihn auffängt, seine Zweifel in Gewissheit wendet.

Jesus fängt den Vater auf und heilt den Sohn. Wobei diese Heilung fast wie ein Nachklapp wirkt. Sie demonstriert das Kraftfeld, in dem Jesus sich bewegt. Sie gibt uns zu verstehen, Jesus kann immer – aber er muss nicht. Das Eigentliche ist nicht die Heilung, sondern Jesus, der den verzweifelten, zweifelnden Vater auffängt und damit uns in den Brüchigkeiten unseres Glaubens. 

Impuls für 2020
Es wird auch in unserem Glaubensleben Berg- und Talfahrten im neuen Jahr geben, Zeiten auf dem Berg der Verklärung und im Tal der Ohnmacht. Wir werden Vertrauenskrisen durchmachen müssen und immer wieder an unsere Grenzen stoßen. Mit eigener Kraft lässt sich manches Problem nicht lösen und mancher Weg nicht gehen, und Jesu Kraft steht nicht automatisch zur Verfügung. 

Jesus wird uns gerade in den Tälern begegnen. Er erinnert uns durch die Jahreslosung: „Vertraue!“ Wenn wir an Gottes Können angeschlossen sind, werden wir seine Kraft weitergeben können und selbst erfahren – oft anders, als erwartet, aber in Gottes Sinne. 

Der Mensch auf der Säule wird es uns in jedem Gottesdienst des Jahres vor Augen führen, dass Gottes Möglichkeiten an unserem Unglauben nicht enden, sondern dass er uns lockt, in seine Arme zu springen.

Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24)

Cornelia Trick


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