Das große Puzzle
Gottesdienst am 26.10.2003

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
am letzten Montag war der Thementeil der Zeitung überschrieben mit den Worten "Christliche Kirchen im Teufelskreis: Verdiesseitigung und Jenseitsverlust". An diesen Schlagworten bin ich hängen geblieben und habe sie auf die Ebene unserer Gemeinde vor Ort transportiert. Warum sind wir hier als Gemeinde von unterschiedlichen Menschen zusammen? Worum geht es uns? Was macht uns aus und warum laden wir andere zur Gemeinde ein?
Um diesen Fragen näher zu kommen, möchte ich Gemeinde in vier unterschiedlichen Bildern zum Ausdruck bringen und diese Bilder hinterfragen.

Die Selbsthilfegruppe

Gemeinde als ein Ort, an dem intensive Gemeinschaft von Gleichgesinnten erlebt wird. Interessen werden geteilt, man unterstützt sich und hilft einander. Man ist sich nahe und tauscht sich aus über Freud und Leid des Lebens. Man findet in der Gemeinde gleichgesinnte Freunde.

Das Fitnessstudio

Zwar nimmt man gemeinsam am Gottesdienst und anderen Gemeindeveranstaltungen teil, aber letztlich ist jeder mit seiner Gottesbeziehung allein. Wer einen ähnlichen Gottesbezug hat, setzt sich in die dafür vorgesehene Zone. Gespräch untereinander wird eher als unpassend empfunden, außer bei kommunikativen Events wie einem Sommerfest oder einem Bazar.

Ärzte ohne Grenzen:

Die Gemeinde ist eine Interessengruppe mit einem öffentlichen Auftrag. Sie kommt zusammen, um die Not der Welt zu bekämpfen. Synergieeffekte werden ausgenutzt. Persönliche Beziehungen dienen dem effizienteren Handeln.

Der Wartesaal im Bahnhof

Bald kommt der Zug in die Ewigkeit. Die Wartezeit wird in der Gemeinde überbrückt durch gegenseitige Bestärkung, dass man im richtigen Bahnhof sitzt und auf den richtigen Zug wartet.

Alle Bilder enthüllen treffende Aspekte von Gemeinde, aber sie stimmen nicht. Denn kein Mensch käme auf die Idee, hinter Selbsthilfegruppe, Fitnessstudio, Ärzte ohne Grenzen oder dem Bahnhofswartesaal eine christliche Gemeinde zu vermuten. So lohnt der Blick in die Bibel, um dem näher zu kommen, wie christliche Gemeinde von ihrem Schöpfer her gemeint ist.

Epheser 1,22-23

Alles hat Gott Jesus Christus unterworfen; ihn aber, den Herrn über alles, gab er der Gemeinde zum Haupt. 
Die Gemeinde ist sein Leib: Er, der alles zur Vollendung führen wird, lebt in ihr mit seiner ganzen Fülle. 

Der Epheserbrief wählt als angemessene Redeform zum Thema Gemeinde Gebet und Lobpreis. Der Apostel zeichnet kein analytisches Bild einer Sozialform, sondern stimmt das staunende Gotteslob über die Gemeinde an. Jesus Christus ist Haupt der Gemeinde, die Gemeinde repräsentiert seinen von ihm abhängigen Körper. Gemeinde als PuzzleEs ist das Bild eines genialen Puzzlespielers, der die verwirrenden 1000 Teile mühelos zusammen ordnet auf ein Ganzes hin. Erst in ihrer Zusammenstellung durch ihn entfaltet sich der Inhalt der christlichen Gemeinde.

Was sofort auffällt: die Gemeinde bildet gemeinsam die Fülle Christi, kein Christ kann allein diese Fülle für sich abbilden. Und weiter: die Gemeinde wird vom Haupt her zusammen gefügt. Es ist nicht beliebig, wer zu ihr gehört und ob man selbst sich zu ihr hält oder nicht. Von Christus her hat jede und jeder einen bestimmten Platz. Bleibt dieser Platz leer, ist das Puzzle unvollkommen.

Ja, werden Sie vielleicht einwenden, so sieht aber nur die Theorie aus. Bestenfalls in den ersten Jahren der Christenheit konnte eine Gemeinde so uneingeschränkt die Fülle Christi abbilden. Der Apostel, der kannte eben noch nicht meine Gemeinde, in der es so menschelt. Da gibt es welche, die wollen zwar das große Sagen haben, aber mit Christus leben wollen sie nicht. Da gibt es andere, die meinen, die Fülle Christi längst in sich zu tragen, aber Gemeinde geht sie scheinbar nur alle 4 Wochen was an. Da sind Hauptamtliche, die langweilige Veranstaltungen lieblos leiten und Ehrenamtliche, die mit hechelnder Zunge ihren gemeindlichen Verpflichtungen nachkommen. Und da soll ich staunen über die Fülle Christi in der Gemeinde?

Bevor Sie abschalten, lassen Sie mich kurz drei Kriterien darstellen, die nach dem Neuen Testament Kennzeichen für eine Gemeinde sind, über die Jesus Christus das Haupt ist. Prüfen Sie selbst, ob in Ihrer Gemeinde nicht vielleicht doch trotz aller Einschränkungen diese Kriterien zum Ausdruck kommen.

Der Missionsbefehl Jesu: Machet zu Jüngern alle Völker

Diese Aufgabe ist der Gemeinde als ganzer gegeben, nicht nur einzelnen, die es zu ihrem Privatvergnügen erklären könnten. Die Gemeinde wird von dem auferstandenen Jesus in die Pflicht genommen, von ihm anderen weiterzusagen und wirklich jede und jeden bis ans Ende der Welt mit ihm bekannt zu machen. Jesus selbst sandte seine Jünger und später 72 seiner Anhänger aus, jeweils in 2-er Gruppen anderen von Gott zu erzählen, wie Jesus es sie gelehrt hatte. 

Dieses Modell greift für die christliche Gemeinde. Wir sind nicht zu Einzelgängern gemacht, sondern aufeinander angewiesen, wenn wir missionarisch leben wollen. Die Fülle Christi bringen wir nur miteinander unters Volk, nicht allein. Wo ist Ihr Partner, Ihre Partnerin, die mit Ihnen unterwegs ist zu den Menschen?

Dieser Missionsauftrag ist vielfältig. In der Kirche renovieren wir gerade einen großen neuen Raum für die Kirchenkinder. Er fällt unter den Auftrag der Mission und ist nicht Zeichen, dass wir es uns selbst schön und kuschelig machen wollen. Denn wenn wir Kindern die Liebe Gottes ganzheitlich nahe bringen wollen, muss auch die Umgebung stimmen. Liebe Gottes ist zwar überall erfahrbar, aber Kinder spüren die Botschaft: Du bist hier willkommen, wir freuen uns, dass du da bist. Wir erwarten dich hier, weil Jesus dich erwartet und lieb hat. Die Räume sind ein guter Dünger für den Samen, den die Kindermitarbeitenden in die Herzen der Kinder säen.

Unser missionarischer Auftrag, so zeigt es dieses eine Beispiel, lässt uns nie still stehen. Und es ist die sehr persönliche Frage an Sie und mich, wie wir mit diesem Impuls umgehen, ob wir gemeinsam mit Leuten aus der Gemeinde unterwegs sind, Jesus unters Volk zu bringen. Ob unser Hauskreis, unsere Brass-Band, unser Gebetskreis von diesem Anliegen Jesu bewegt ist. Wenn nicht, so wird es höchste Zeit, dieses Kriterium einer Gemeinde zu entwickeln, dass in ihr die Fülle Christi auch wirklich wohnen kann.

Eins sein mit Christus

Ein weiteres Kennzeichen der Gemeinde, wie Jesus sie gewollt hat, ist die Einheit mit ihm und untereinander. Oft wird dieses Anliegen in der Bibel formuliert. Mit Christus eins sein bedeutet auch untereinander eins zu sein. Jesus schafft diese Einheit, er zieht uns zu sich und gibt uns Kraft und Fähigkeit, miteinander mit ihm auf dem Weg zu bleiben. 

Wenn ich dieses Kriterium auf die Gemeinde vor Ort beziehe, denke ich an unsere Gebetskreise. Sie sind Orte, an denen wir uns regelmäßig treffen, um auf Jesus zu hören und mit ihm zu reden. Ich frage mich allerdings, warum sie doch nur von einer kleinen Gruppe von Christen aufgesucht werden. Welche Hemmschwellen tun sich auf? Haben wir Angst, empfinden wir die Gemeinschaft im Gebet überflüssig, drängen sich immer wieder andere Anforderungen dazwischen? Vielleicht hilft es uns, die Blickrichtung des Epheserbriefes einzunehmen. Es geht gar nicht darum, wie wir uns in eine solche Gemeinschaft einbringen, ob unsere Gebete laut oder leise, gut ausformuliert oder kurz und abgehackt klingen. Jesus möchte uns zur Einheit führen, er möchte uns im Gespräch mit ihm anleiten und seine ganze Fülle darin zum Ausdruck bringen. Was zählt dagegen ein Vorbehalt, was die anderen von meinem Beten halten könnten.

Wir können die Liste fortsetzen mit unseren Hauskreisen, unserem Bibelgespräch, unseren Dienstgruppen. Sie dienen nicht in erster Linie der Selbsthilfe, der Fitness, der Aktion oder als Wartesaal zum Himmel. Sie sind Orte, an denen Jesus uns zur Einheit mit ihm führen will, Orte, an denen er Fülle schenkt, die wir allein nicht haben werden. Solange wir am Rand stehen, werden wir das nicht merken, erst wenn wir uns hineinbegeben, wird uns das klar werden.

Die Einheit mit Christus zeigt sich auch in der Liebesfähigkeit der Gemeinschaft. Ein wichtiges Anliegen Jesu und der ersten Gemeinden war ihr diakonisches Handeln. Es entspringt aus der Liebe, die Jesus uns entgegenbringt und wächst im Verschenken und Weitergeben an andere. Die Aktion, die sich anderen zuwendet, ist ein Zeichen der Einheit in Christus und gewinnt daher ihre Kraft, Ausdauer und ihren Erfolg.

Eins sein in Christus wird von der Bibel her noch in einer weiteren Perspektive beleuchtet. Paulus schrieb in seinem Brief an die Philipper sehr eindringliche Worte an Evodia und Syntyche (Philipper 4,2), die wohl in Streit miteinander geraten waren. Er forderte sie auf, sich zu vertragen und wieder eins zu werden in dem Herrn. Offenbar hatte ihr Streit Auswirkungen auf die Einheit mit Christus.

Wir sollten unsere persönlichen Streitereien auch in dieser Perspektive sehen. Sie gefährden den Frieden mit Christus und rütteln an den Grundfesten der Gemeinde Jesu Christi. Paulus war der Frieden so wichtig, dass er die zwei Frauen namentlich erwähnte. Wir können froh sein, dass unsere Namen da nicht stehen und noch nach 2000 Jahren nachzulesen sind. 

Die himmlische Berufung wach halten

Aus der frühen Gemeinde ist uns ein Ruf überliefert, den man sich regelmäßig im Gottesdienst zusprach: Maranatha! Herr, komm! Die ersten Christen waren davon überzeugt, dass der Herr bald kommen würde, um sein Reich aufzurichten. Gemeinde war für sie schon ein Zeichen und ein kleiner Vorgeschmack auf den Himmel. Wie die Christen in der Gemeinde Gemeinschaft mit Jesus Christus erlebten, so würde es ohne Anfechtungen, Verfolgungen und Zweifel im Himmel weiter gehen. Diese Hoffnung auf den Himmel stärkte die Gemeinde in ihrem Miteinander. Sie sahen den Alltag nicht als die eigentliche Forderung, die täglich über sie herein brach, sondern als etwas Vorläufiges, das unter Ewigkeitsaspekten die Bedeutung verlor.

Ich meine, dass wir wie sie diese Erwartung auf Jesu Kommen und sein Reich brauchen. Es rückt auch unsere Perspektive zurecht. Was ist in Anbetracht der Ewigkeit wirklich wichtig? Wo können wir uns helfen, die Sorgen des Alltags loszulassen und frei zu werden für unseren Herrn? Was bedeutet das angesichts Existenz gefährdender Einschnitte im Leben wie Krankheiten, Arbeitsplatzverlust, plötzlichem Tod Nahestehender? Gerade da wird uns aber auch der Reichtum unserer himmlischen Berufung bewusst. Vom Ziel her werden wir getröstet. Jesus kommt uns entgegen und spricht uns selbst Mut und Trost zu, denn er kennt den Weg in die Zukunft, ist ihn selbst schon für uns gegangen und lässt uns auf diesem Weg niemals los.

Christliche Gemeinde, die Jesus Christus zum Haupt hat, wird missionierende Gemeinde sein. Sie wird die Einheit mit Jesus Christus leben und sie wird ihre himmlische Berufung nicht aus den Augen verlieren. Wo eines dieser Kriterien völlig fehlt, wird sie sich von ihrem Haupt lösen, die Verbindungswege abschneiden und schließlich absterben. Eine Gemeinde, die von ihrem Haupt auch nur in einem der Kriterien getrennt ist, wird nicht die Fülle Christi wiederspiegeln können.

Das hat auch Konsequenzen für die einzelnen Glieder des Organismus Gemeinde. 

Meine Position

Ich kann mich nicht an den Rand des Organismus stellen und Gemeinde aus der Distanz beobachten. Die Fülle Christi lebt in ihr auch durch mich. Stehe ich außen vor, so auch in meinem Verhältnis zum Haupt der Gemeinde. Und mein mir von Christus her zugewiesener Platz bleibt leer, ein Puzzleteil fehlt, das Bild der Fülle Christi bleibt unvollständig.

Christus positioniert mich

Ich muss auf Christus hören, wo er mich haben will. Das ist nicht nur eine Frage der Tradition und der familiären Kirchenzugehörigkeit. Unsere Gesellschaft fordert uns heraus, uns bewusst für unsere Arbeit, unser Umfeld, auch unseren Wohnort zu entscheiden. Es reicht nicht, das Althergebrachte festzuhalten, weil es oft nicht mehr zu den Lebensumständen passt. Ich muss mich in einem neuen Umfeld auf den Weg machen und wirklich Christus um Weisung bitten, wo er mich haben will, in welcher Gemeinde und dort an welchem Platz. Dabei helfen die Kriterien, wie Jesus in der Gemeinde seine Fülle leben will. Dabei hilft aber mindestens genauso die selbstkritische Rückfrage, ob ich bereit bin, mich in der Gemeinde einzupassen mit meinen Gaben, ob ich an ihrer Mission in die Welt teilnehme, ob ich Eins-Sein in Christus praktizieren will im Gottesdienst und in den verschiedenen Diensten und schließlich ob ich bereit bin, dieser Gemeinde eine Priorität in meinem Leben einzuräumen, die der Fülle Christi gerecht wird.

Zum Anfang und den Bildern von Gemeinde. Sie treffen wirklich einzelne Aspekte der Gemeindewirklichkeit sehr gut. Doch sie bleiben menschliche Aktivitäten. Das Besondere und Einzigartige der Gemeinde ist ihre Abhängigkeit vom Haupt Jesus Christus, das ihr Auftrag, Liebe, Kraft und Leben verleiht. Vielleicht können wir in der vor uns liegenden Woche dieses Haupt wieder viel stärker durch Lob und Dank in unseren Alltag einbeziehen. Die Fülle Christi ist es wert, von uns allen erlebt und gelebt zu werden.

Cornelia Trick


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