Bist du es wirklich?
Gottesdienst am 17.12.2000

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
der 3.Advent ist im Kirchenjahr Johannes dem Täufer gewidmet. Er ist der Vorläufer Jesu, der Jesus den Weg bereitet hat, der ihn angekündigt und mit seiner Verkündigung Jesu Auftreten vorbereitet hat. Eine Woche vor Weihnachten lassen wir uns heute auf ihn ein und betrachten sein Leben – es ist eine Einstimmung auf das Weihnachtsgeschehen, es holt uns ab aus unserem Alltag und öffnet Horizonte über Heiligabend hinaus.

Von Johannes wissen wir nur wenig. Wir hören aus den Evangelien, dass er seinen Eltern Elisabeth und Zacharias geschenkt wurde und aus einem Priestergeschlecht stammte. Er lebte als Einsiedler in der Wüste und lehrte die Leute, die zu ihm pilgerten, dass Gottes Gericht bevorsteht und sie umkehren müssten. Er bot ihnen an, sie zu taufen und damit die Umkehr zu Gott und neuen Gehorsam zu besiegeln. Er taufte auch Jesus und sagte von ihm, dass er einmal das Gericht mit Taufe und Feuer durchführen würde, dass Jesus der langersehnte Messias ist und er sich ihm unterordnete. Johannes mischte sich auch in die Politik ein. Er sagte dem Vierfürsten Herodes Antipas die Meinung, als der die Frau seines Bruders heiratete und damit gegen Gottes Gebote verstieß. Herodes ließ ihn gefangen setzten, denn der öffentliche Tadel war Auflehnung gegen die Staatsgewalt. 

Heute begegnen wir Johannes, der im Gefängnis sitzt und nur über seine Jünger, seine Schüler und Nachfolger, Kontakt zur Außenwelt hat. Er trägt ihnen auf, sich mit Jesus in Verbindung zu setzen. Hier ist das Gespräch der Schüler mit Jesus:

Matthäus 11,2-6

Der Täufer Johannes hatte im Gefängnis von den Taten gehört, die Jesus als den versprochenen Retter auswiesen; darum schickte er einige seiner Jünger zu ihm. "Bist du wirklich der, der kommen soll", ließ er fragen, "oder müssen wir auf einen anderen warten?" Jesus antwortete ihnen: "Geht zu Johannes und berichtet ihm, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Gelähmte gehen, Aussätzige werden gesund, Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird die Gute Nachricht verkündet. Freuen darf sich, wer nicht an mir irre wird"

Johannes ist ganz unten, im GefängnisfensterGefängnis und am Ende seiner Mission. Doch Jesus irritiert ihn. Er hatte erwartet, dass Jesus nun endlich mit dem Schwert dazwischen gehen würde und Gottes Gerechtigkeit sich so durchsetzen könnte. Er hatte vom Messias erwartet, dass er das Feuer des Gerichts bringen würde. Stattdessen erzählten ihm seine Schüler, dass Jesus lange Predigten hielt. Zu Feindesliebe, Gewaltverzicht und einem vertrauensvollen Leben mit Gott lud er ein. Die Schüler erzählten ihm auch von vielen Heilungen, Menschen wurden gesund und priesen Gott. Das alles verwirrt Johannes.

So ist es kein Wunder, dass er Jesus durch seine Leute fragen lässt: Bist du es wirklich? Es ist ein entscheidender Wendepunkt in Johannes Leben. Sein Bild von Jesus und die Wirklichkeit passen nicht zusammen. Doch statt an seiner Vorstellung festzuhalten und Jesus sein scheinbares Versagen vorzuwerfen, ja, ihm seine Messianität rundweg abzusprechen, wendet er sich an Jesus mit seiner sehr offenen Frage, wer er denn nun sei. 

An dieser Stelle empfinde ich eine große Nähe zu Johannes, auch wenn ich nicht der Vorläufer Jesu bin, auch wenn ich ein ganz normales Leben mit den durchschnittlichen Freuden und Leiden führe. Es gibt Situationen, da fühle ich mich auch im Gefängnis, im Gefängnis meiner eigenen Erwartungen und Vorstellungen, im Gefängnis, weil ich aus meiner Rolle nicht heraus komme, im Gefängnis, weil andere mir den Lebensraum beschneiden. Ich denke an Freunde von mir, die in Krisen sind, die das Scheitern ihrer Ehe erleben, die ihre berufliche Perspektive verloren haben, die überfordert sind von den täglichen Erwartungen, die andere an sie stellen. Manchmal unterhalten wir uns und stellen die gleiche Frage wie Johannes: Jesus, du müsstest doch jetzt eigentlich dazwischen fahren. Du müsstest doch Gottes Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen. Wo bleibst du? Bist du es wirklich, an den wir glauben? Unsere Vorstellungen von Jesus und die Wirklichkeit stehen auf dem Prüfstand. Und genau das ist Thema des Advents – Jesus kommt, wer ist er, wie sollen wir ihn empfangen?

Jesus antwortet Johannes. Er zitiert Worte aus der Bibel, Worte des Propheten Jesaja, die auf sein Kommen hindeuten. Blinde sehen, Gelähmte gehen, Aussätzige werden gesund, Taube hören, Tote stehen auf und Arme hören das Evangelium, das sind Ereignisse, an denen Gläubige in Israel den Messias erkennen sollen. Und genau damit hat Jesus sich bereits legitimiert – er tat Wunder und er predigte in Vollmacht die gute Nachricht. Jesus antwortet Johannes nicht direkt. Aber er lädt ihn ein, mitzugehen und Erfahrungen mit Jesus zu sammeln.

Heute können wir Jesu Antwort hören als Aufforderung "Lies die Bibel", tauche ein in das Leben Jesu, in die Verheißungen, die auf Jesus hinweisen und die Erfüllung, die mit ihm gekommen ist. Lies die Bibel, um Jesu Barmherzigkeit zu verstehen, seine Liebe zu erspüren, zu erfahren, dass er sich auch deiner in deiner Gefängnissituation annimmt.

Johannes wurde nicht aus dem Gefängnis befreit. Er wurde eingeladen, an den Wundern anderer teilzuhaben.

Es ist auch eine Einladung an uns, stärker auf die Erfahrungen anderer zu sehen und sie zu den eigenen zu machen. In der Beschäftigung mit der Bibel können wir erst einmal Abstand von unserer Situation gewinnen und uns erfüllen lassen von der Freude über die Nähe Gottes in Jesus Christus. Und auch wenn sich unser Gefängnis nicht sofort auftut, die Türen verschlossen bleiben und kein Ende der Krise in Sicht ist, leben wir aus der Zusage Jesu, dass er alle Gewalt im Himmel und auf Erden hat und auch unsere Lage verändern kann. Wir leben von der Zusage seiner Liebe zu uns und seiner Nähe, die auch mitten im Gefängnis gilt und weiter hilft. Wir leben auf Hoffnung, dass es einmal eine Zeit geben wird, wo auch das Gefängnis des Todes nicht mehr existiert und uns nichts mehr von Jesus trennen kann. 

An den Erfahrungen von Leuten aus der Bibel, von Mitmenschen teilzuhaben lässt uns auf die Spur kommen, wer hinter den Wundern und den Predigten steckt. Jesus will nicht die Symptome unserer Gottverlassenheit kurieren. Er möchte uns ganz und gar von innen heraus heilen. Den Bruch will er heilen, der uns von Gott trennt. Jesus kommt uns in unserem Leiden als Leidender nahe. Er bekennt sich zu uns. Er ist gerade da, wo wir wie Johannes ins Zweifeln kommen, ob er denn wirklich helfen kann. Und er möchte uns in dieser Leidensgemeinschaft den Weg des Heils öffnen. Er bietet uns seine Gemeinschaft an als einer, der die tiefsten Tiefen um unserer willen selbst durchlebt hat. 

Jesus ermutigt uns, seine Antwort ins eigene Leben zu transportieren. In der Dunkelheit sollen wir nach dem Licht suchen und es einlassen. Wir sollen ihm die Hand geben und mit ihm gehen. Die Zeugnisse anderer sollen wir für uns selbst aufnehmen und sie in unserem Herzen bewahren. Von Maria wird in der Weihnachtsgeschichte gesagt, dass sie die Worte der Hirten über Jesus in ihrem Herzen bewegte. Immer und immer wieder gingen ihr die Worte im Kopf herum – so können wir es machen mit Jesu Antwort, sie bewegen und sie zum Klingen bringen. So können wir es auch machen mit den diversen Weihnachtsbriefen, die jetzt ins Haus kommen. Sie sind oft Zeugnisse von Gottes bewahrendem und liebevollen Handeln an uns Menschen. Solche Briefe sind es wert, im Herzen bewegt zu werden, dass sie ein Teil von uns werden und uns Zuversicht und Hoffnung geben.

Jesus deutet eine Entscheidung an. Er lädt Johannes und uns ein, uns mit ihm auf den Weg zu machen. Doch der Weg gabelt sich. Mit Jesus weiterzugehen bedeutet, sich zu freuen, glückselig zu sein. Sich von Jesus abzuwenden bedeutet, irre zu werden, sich zu ärgern, sein Leben zu verpfuschen. Und es gibt viele Spielarten, an Jesus Anstoß zu nehmen. "Mir hilft er nicht, also taugt er nichts", könnte so ein Gedanke des Anstoßes sein. "Ich bin Jesus zu unwichtig, als dass er mir hilft", könnte ein anderer Gedanke sein. Angst vor den Konsequenzen, wie sie Jesus immer wieder nennt, könnte auch von einem Leben mit ihm abhalten. Sich einlassen müssen auf Erfahrungen ist auch eine gewagte Sache, schließlich gibt es keine Prepaid-Card für Gotteserfahrungen zu kaufen. Doch Jesus sagt hier sehr deutlich, dass es ohne ihn keine Freude geben wird, dass Gericht und Gottesferne warten, Dunkelheit und Beziehungslosigkeit. Die Wegzeichen zu beachten scheint unbedingt nötig zu sein. Vorbild kann uns Johannes sein, der Jesus nachging, der seine Schüler schickte, um herauszubekommen, ob Jesus wirklich der Erwartete war. Wir dürfen Jesus in einer Phase des Zweifels und der eigenen Kraftlosigkeit nicht loslassen, seine Worte immer wieder in unserem Herzen bewahren, um bei ihm zu bleiben und an der Weggabelung den richtigen Weg nicht zu verpassen. 
Früher lernten Heranwachsende im Unterricht den Katechismus auswendig, eine Sammlung von Fragen und Antworten zum christlichen Glauben. Er war neben den gelernten Bibelstellen und Liedern die Grundlage des christlichen Glaubens, von dem die Jugendlichen ihr Leben lang gerade an Weggabelungen zehren sollten. Ein sehr verbreiteter Katechismus war der Heidelberger Katechismus von 1563. In der ersten Frage heißt es – ganz ähnlich wie Johannes fragte "Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?" Antwort: "Dass ich im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin". Glauben Sie mir, wer diese beiden Sätze verinnerlicht hat, sie in seinem Herzen an vielen Weggabelungen des Lebens bewegt hat, der oder die weiß sich in Jesus geborgen, so habe ich es oft gehört und auch selbst erfahren. Leider lernen wir heute keinen Katechismus mehr auswendig, unser Gedächtnis ist mit vielen anderen Inhalten beschäftigt, selbst wenn wir wollten, es würde einfach nicht hängen bleiben. Aber solche kurzen Sätze auf einen Zettel schreiben und an die Pinnwand hängen, das könnte schon ein kleiner Impuls sein, Jesu Worte zu bewahren und sich an sie in der Krise zu erinnern.

Johannes schickte seine Schüler zu Jesus, er konnte ihn nicht selber fragen. Geht es uns nicht manchmal auch so? Da schaffen wir es einfach nicht, selbst zu beten, mit Jesus das Problem zu behandeln, ihn zum hundertsten Mal zu bitten, sich jetzt endlich als der Herr zu erweisen. Die Gemeinde bietet uns Gemeinschaft an. Wir können einander um konkrete Gebetsunterstützung bitten. Wir können einander bitten, uns an die Hand zu nehmen auf dem Weg mit Jesus, wenn es allein schwer fällt. Und unsere Schwestern und Brüder werden uns die Worte Jesu auf ganz neue Weise nahe bringen, dass wir sie verstehen und annehmen können und getröstet werden.

Jesus warnt davor, ihn loszulassen, aber er lädt ein, mit ihm zu gehen. Freuen werden wir uns, das verheißt er uns. So stelle ich mir Adventsmenschen vor, die in Erwartung sind. Vielleicht stecken wir in einer schier aussichtslosen Lage wie Johannes, vielleicht sind die Mauern um uns dick, das Wasser steht uns bis zum Hals oder die Decke fällt uns auf den Kopf und nach Advent und Weihnachten ist uns so gar nicht zu Mute. Und doch ist da das kleine Fünkchen Erwartung, dass Jesus mitten in diesen Mist kommt. Dass er mitleidet, weil er weiß, wie sich Leiden anfühlt, und dass er Not wenden kann. Sicher wird der Weg mit Jesus oft anders verlaufen, als ich ihn mir ausgerechnet habe. Aber es kann ein guter Weg werden, ein Weg, der auch über Umwege ins Himmelreich führt.

So können wir die Frage, die sich auch mit dem zu Ende gehenden Jahr wieder neu stellt "Was kommt auf mich zu?" leicht umformulieren und ihr damit eine ganz neue Prägung geben. "Wer kommt auf mich zu?", ist es nicht Jesus Christus, der uns zugesagt hat "Ich bin bei euch alle Tage"? Er holt uns ab an der Weggabelung. Er sucht uns, auch wenn wir uns verirrt haben sollten. Er bietet uns Heilwerden und große Freude an und er bewahrt vor dem Gericht.

Die Menschen schauen immer von Gott fort. Sie suchen ihn im Licht, das immer härter und schärfer wird, oben. – und Gott wartet anderswo – wartet – ganz am Grund von Allem. Tief. Wo die Wurzeln sind. Wo es warm ist und dunkel. (Rainer Maria Rilke)

Cornelia Trick


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