Anleitung zum Vergeben
Gottesdienst am 15.06.2008

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
der Bibelvers, der diesem Sonntag und der vor uns liegenden Woche zugeordnet ist, beschreibt den Umgang von Christen miteinander: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Galater 6,2) Es ist eine perfekte Anweisung, wie mit Lasten umgegangen werden kann. Wenn meine Schwester eine Last mit sich rumschleppt und ich gerade nichts zu tragen habe, nehme ich ihr das Bündel ab. Dann kann sie befreit weiterlaufen.

Aber greift diese Aufforderung nicht ein bisschen kurz? Ich erinnere mich an eine Wanderung durch ein abgelegenes Tal des Grand Canyon. Es war ein wunderschöner Tag mit strahlend blauem Himmel und entsprechender Sonne. Wir hatten als kleine Reisegruppe die Nacht auf einem Zeltplatz eines Indianerdorfs verbracht und befanden uns auf dem steilen Anstieg zurück zu unserem Parkplatz oberhalb des Tales. Jeder von uns hatte einen großen Rucksack dabei, schließlich mussten ja auch Zelte, Schlafsäcke und Kochgeschirr transportiert werden. Mitten im Anstieg machte eine aus der Gruppe schlapp. Sie bekam vermutlich einen Sonnenstich und massive Kreislaufprobleme. Was sollten wir machen? Natürlich gaben wir ihr sofort alles Wasser. Wir konnten sie soweit mobilisieren, dass sie wieder ein paar Schritte gehen konnte. Aber ihren Rucksack? Den konnten wir unmöglich auch noch mitschleppen. Noch mal 20kg waren von drei Leuten einfach nicht zu bewältigen. Nach einigen ausgedehnten Pausen im Schatten von überhängenden Felsen hörten wir Hufgetrampel näher kommen. Ein Indianer kam mit seinem Esel den steilen Pfad herauf. Er ließ sich überreden, die Frau samt ihrem Rucksack auf dem Esel hochzuführen. Eine reine Gebetserhörung war das.

Einer trage des andern Last“, damit sind wir schnell überfordert. Wer von uns ist schon so ohne Lasten, dass er oder sie die Rucksäcke der anderen schultern kann. Wer von uns ist so stark, das Leid der Welt tragen zu können. So hilft uns so eine Art Esel sicher weiter, wie wir ihn damals im Canyon-Tal getroffen hatten. Um den anderen mitsamt seinen Lasten tragen zu können, brauchen wir einen, der für uns trägt, der die Kraft dazu hat und an sich selbst nicht tragen muss. Wenn wir einander die Lasten tragen, dann doch als Christen, die ihre Lasten Jesus aufladen und einander diesen Jesus zeigen. „Einer trage die Last des andern“ ist letztlich Aufforderung, dass einer die Lasten des anderen Jesus bringt und dazu noch die eigenen. Dafür sind wir uns zur Seite gestellt, dass wir auf Jesus hinweisen und ihn in Anspruch nehmen.

Lassen Sie mich noch ein bisschen genauer auf die Lasten schauen, die wir auf dem Rücken schleppen. So eindeutig wie bei unserer Canyon-Tour sind sie ja nicht. Lasten können Geschichten von früher sein, Erfahrungen, die Wunden nach sich zogen, Schuld, die bedrückt. Lasten halten von einem freien und glücklichen Leben ab. Sie hemmen den Lauf nach vorn und den Blick nach oben. Sie führen irgendwann zum Zusammenbruch. 

Der Apostel Paulus beschreibt im ersten Teil des Römerbriefs die Menschheit ohne Gottes Geist. Er stellt fest, dass Menschen wie verwachsen sind mit der Sünde, die sie von Gott wegreißt. Von den Fußballspielern, die sich auf die Europameisterschaftsspiele vorbereiten, war letzte Woche ein Bild in der Zeitung. Sie trainierten auf einem Rasenplatz und zogen schwere Gewichte hinter sich her. Ihre Hauptarbeit bestand darin, diese Gewichte vorwärts zu bringen, nicht etwa Fußball zu spielen. So geht es uns Menschen mit der Sünde. Sie hält uns ab von der eigentlichen Aufgabe, Gottes Spiel zu machen. Sie bindet unsere Kräfte und zehrt uns auf. Manchmal lässt sie uns so viel Spielraum, dass wir einen Meter vorwärts kommen. Doch das Gummiband ist tückisch. Es zieht uns schnell wieder mit ganzem Schwung zurück. 

Paulus konkretisiert diese Macht der Sünde. Sie äußert sich in dem Zwang, Gott in seiner Autorität nicht anzuerkennen. Hier geht es nicht um Lippenbekenntnisse, sondern um den ganzen Lebensvollzug. Denn wenn ich Gott anerkenne, werde ich ihm zugestehen, gegen das Böse selbst zu kämpfen. Ich werde mir nicht einbilden, selbst gegen die Gewichte, die mich und andere ziehen, zu siegen. Ich werde zugeben, dass ich diese Aufgabe allein Gott überlassen muss. Noch genauer, ich muss sie Jesus tun lassen, der durch seinen Tod am Kreuz die Bänder zum Bösen für uns durchgeschnitten hat.

Im 12. Kapitel des Römerbriefes leitet Paulus die Gemeinde Jesu an, als von Lasten Befreite zu leben. Er macht es fest an dem zentralen Thema von Schuld. Hier zeigt sich wie in einem Vergrößerungsglas, ob Christen als Befreite leben oder noch immer mit dem Gummiband von Gott abgehalten werden.

Römer 12,17-21

Wenn euch jemand Unrecht tut, dann zahlt es niemals mit gleicher Münze heim. Seid darauf bedacht, vor den Augen aller Menschen bestehen zu können. Soweit es möglich ist und auf euch ankommt, lebt mit allen in Frieden. Nehmt keine Rache, holt euch nicht selbst euer Recht, meine Lieben, sondern überlasst das Gericht Gott. Er sagt ja in den Heiligen Schriften: »Ich bin der Rächer, ich habe mir das Gericht vorbehalten, ich selbst werde vergelten.« Handelt vielmehr nach dem Wort: »Wenn dein Feind hungrig ist, dann gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Dann wird es ihm bald Leid tun, dein Feind zu sein.« Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern überwinde es durch das Gute!

Paulus ist hier am Höhepunkt seiner Gemeindeunterweisung angelangt. Er zitiert wörtlich aus der Heiligen Schrift. Wer von der Macht der Sünde befreit ist, wer statt ihrer unter dem Einfluss des Geistes Gottes steht, erklärt damit auch seinen Verzicht auf eigene Machtausübung. Das gilt auch für die Vergeltung von empfangenen Unrecht. Diese Sucht zur Vergeltung ist Ausdruck der Macht, die von Gott wegtreibt. Sie überrollt den Menschen wie ein Feuerball und reißt ihn mit.

Paulus fordert auf, sich von dem Wunsch nach Vergeltung nicht mitreißen zu lassen, denn er ist Ausdruck dessen, dass der Mensch Gottes Souveränität nicht anerkennt. Stattdessen sollen die Christen aktiv aufstehen. Sie sollen sich dem Bösen entgegenstellen. Sie können es, indem sie das Kreuz Jesu wie ein Stoppschild vor das Böse stellen. Denn Jesus hat die Spirale von Gewalt und Vergeltung durchbrochen. Nur mit ihm ist es möglich, aus dem Teufelskreis herauszukommen. Er ist in die Welt gekommen, um Kranke zu verarzten. Er bietet volles, erfüllendes Leben an. 

Unversöhnlichkeit, Groll und Rachegedanken sind Gewichte, die von diesem prallen Leben zurückhalten, sie sind die Lasten, die in die Tiefe drücken. So bekommen wir hier durch den Römerbrief eine Anleitung Jesu zum Lastenabwerfen und zum Vergeben. Wir lernen, dass diese Unversöhnlichkeit uns von Gott abhält und uns das Leben blockiert, und wir bekommen den Ausweg gezeigt, wie Jesus diese Last selbst schultert und uns davon befreit.

Du bist (nicht) schuld!

Ein Wort hat das andere gegeben, man ist sich buchstäblich in die Haare gekommen. Einer weist die Schuld der anderen zu: „Du hast angefangen! – Nein, du mit deinem ewigen Rumnörgeln! – Ich? Wieso? Ich habe nur gesagt, was ich schon länger denke, ist das verboten? – Nein, aber du hast mich angegriffen. – Ich, dich angegriffen? Sei doch nicht so empfindlich. Du machst gleich aus jeder Mücke einen Elefanten!“ usw. Der Dialog lässt sich fortsetzen. Und am Schluss stehen beide da, zutiefst verletzt und trotzig, denn jeder fühlt sich im Recht, niemand hat angefangen, das Böse hat beide buchstäblich überrollt. Leider bleibt es dann meistens bei der Feststellung „Du hast Schuld!“ und nichts bewegt sich mehr. Jesus sagt in der Bergpredigt „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Matthäus 5,9)

Er meint damit die, die den Frieden aktiv in Gang setzen, ihn wie ein Werkstück mit eigenen Händen „fertigen“. In der geschilderten Auseinandersetzung geht es also darum, aktiv den Schlagabtausch zu beenden. „Nein, nicht Du bist schuld, sondern wir beide haben etwas falsch gemacht, dass wir uns so in die Haare geraten sind. Ich habe auch meinen Anteil daran. Vielleicht wollte ich keinen Streit entfachen, aber dass er entstanden ist, geht auf jeden Fall auch auf mein Konto. Denn ich hatte mindestens an einer Stelle die Wahl. Ich hätte sagen können: Ich will mich nicht mit dir streiten, lass uns später in Ruhe noch mal auf unser Thema schauen. Aber das habe ich nicht gesagt.“

Woher nehmen wir die Kraft, so aktiv das Stoppschild zu heben? Es ist Jesus, der für uns eintritt und dem wir unsere Wut und Verletzung übergeben können. Es ist Jesus, der den Frieden in uns schaffen kann, dass wir ihn nur weiterzugeben brauchen. Es ist Jesus, der auch in der größten Auseinandersetzung meinen Kontrahenten im Blick hat. Der wird für mich streiten und dem will ich es anbefehlen.

Wie du mir, so ich (nicht) dir!

Bei manchen Szenen auf dem Fußballplatz kann man das zutiefst menschliche Echo-Verhalten gut studieren. Da wird ein Spieler vom Gegenspieler gefoult. Zweikampf beim FußballUnd wenig später geht es dann anders herum. Der Gefoulte foult selber und zahlt dem Verursacher den Schmerz heim. Es ist, als wenn man den Schmerz so wieder loswerden könnte, die Demütigung leichter überwindet, wenn man sie gleich wieder zurückgibt. Als ob ein Foul ein Paket wäre, das sich ohne Folgen immer hin und her schieben ließe.

Aber mit den Verletzungen ist es eben nicht wie mit einem Paket von der Post. Sie hinterlassen Spuren. Jedes Gespräch, jedes kleine Wortgefecht hinterlässt einen Kratzer auf unserer Seele und gräbt sich in unser Gedächtnis ein. Wir werden ihn nicht los durch Weitergeben oder Zurückgeben. Wir werden ihn erst los durch Heilung. Deshalb ist der Glaube an Jesus so wichtig. Stellen wir uns das bildlich vor. Wir befinden uns mitten in einer Foulsituation auf dem Fußballplatz. Aber statt zurückzutreten schauen wir kurz an den Spielfeldrand. Da ist Jesus. Der überblickt die Szene. Er ruft uns zu: „Lass den Gegner in Ruhe. Das ist jetzt nicht wichtig. Es geht um den Sieg am Ende des Spiels. Konzentriere dich auf die Tore. Das ist dein Job. Komm schnell zu mir, ich verarzte dich, dass du gut weitermachen kannst. Um deinen Kontrahenten kümmert sich der Schiedsrichter.“

Dieser entscheidende Blick zu Jesus macht den Unterschied. Er bewirkt, dass ich mich aus dem Teufelskreis der Vergeltung heraushalten kann, dass ich ihn unterbrechen kann. Menschlich würde ich zurücktreten, aber Jesus gibt mir durch seinen Geist den Blick auf das Wesentliche, es geht um ewiges Leben. Nicht um Rechthaben oder Kleinkriege. Es geht darum, letztlich auch den Kontrahenten für Jesus zu gewinnen. Und das kann ich nur, wenn ich ihn nicht zusammenschlage, foule und hasse.

Doch bin ich durch das Foul nicht nur behindert worden, sondern vielleicht sogar richtig verletzt worden. Jesus, der Arzt, wird sich meiner Wunden annehmen, er wird mich eigenhändig vom Platz tragen und pflegen. Er wird mich so zusammenflicken, dass ich weiterspielen kann. Nichts anderes bedeutet es, dass er am Kreuz für mich gestorben ist, damit ich leben kann.

Einer trage die Last des andern“, so haben wir es als Gebot Jesu im Wochenspruch gehört. Wir sind einander zugewiesen, uns zu helfen. Die Last des andern können wir nicht selbst tragen, die müssen wir Jesus abgeben, der trägt sie. Ist diese Last Unversöhnlichkeit, Bitterkeit, Vergeltungswunsch und tief empfundenes Rachegelüst, hilft nur die Befreiung durch Gottes Geist, der das Gummiband zum Bösen durchschneidet. Weil Gott die Macht hat, wird er mit denen, die uns das Leben schwer machen und belasten, so umgehen, wie er will. Wir sollen und brauchen uns nicht darum zu kümmern. Wenn unsere Wunden heilen, werden wir zunehmend den Blickwinkel Jesu einnehmen können. Wir werden unseren Anteil an Schuld erkennen und für den beten können, der uns verletzt hat, dass auch er konstruktiv mitspielen kann um die Meisterschaft – das ewige Leben mit dem Vater im Himmel.

Cornelia Trick


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